Peter Renz

Schrei der Kriegskinder
Zu den neuesten Arbeiten von Gero Hellmuth

 

Es ist nun fast drei Jahrzehnte her, dass ich der Kunst von Gero Hellmuth zum ersten Mal begegnet bin. 1990 sprach ich zur Eröffnung seiner Ausstellung Bild und Musik Bilder zu Werken des spanischen Komponisten Manuel Hidalgo in Singen. Fasziniert hat mich damals schon die kraftvolle Expression wie die feinnervige Lineatur seiner Arbeiten, die sich zu einer dynamischen Bildkraft verbanden und – ähnlich der Musik – einen lebendigen Farb-Klang-Raum entstehen ließen: „…schon in seinen frühen Zeichnungen aus seiner Studienzeit…“ sagte ich damals, „weiterentwickelt dann in den graphischen Arbeiten zur Erfahrung mit Naturkräften, zeigt sich sein Formwille als Übersetzung innerer Erlebnisse in der Dynamik zeichnerischen Gestus` …es geht ihm um die Verbildlichung von Erfahrungsdimensionen, die ihren ursprünglichen Charakter nach a-visuell, also ohne optische Qualität sind…seine Bilder und Zyklen beschreiben in immer neuen Anläufen die unerhörte Spannung zwischen dunkler Schwere und flüchtiger Spur, zwischen verdichteter Figürlichkeit und transparenter Weite…Dieser Kontrast von geballter, dunkel-drückender Körperlichkeit und zarter, ins Licht
aufsteigender Lineatur habe ich auch schon in seinen frühen Zeichnungen gefunden; es zieht sich durch das Werk dieses Künstlers als seine eigentliche, bildnerische Thematik: vielleicht drückt sich darin etwas aus vom Wunsch des Menschen, sich aus der Schwere des Daseins zu erheben, jene Kundera`sche  „unerträgliche Leichtigkeit“ zu spüren.“

Was ich damals sagte, gilt im Wesentlichen bis heute. Doch inzwischen hat sich die Welt dramatisch verändert. Die Hoffnung auf Frieden nach dem Ende des Kalten Krieges war vergeblich: Kurz nach der damaligen Ausstellung begann 1991 der zweite Golfkrieg, wütete der Völkermord in Ruanda, der Bürgerkrieg im zerfallenden Jugoslawien mit den Greueltaten im Kosovo Ende der 90er Jahre, der Bürgerkrieg in Südsudan (seit 2013), als Reaktion auf 9/11 der dritte Golfkrieg 2003 unter George Bush auf der Basis einer Lüge, dann der Afghanistankrieg, der Huthi-Konflikt im Jemen (seit 2004), – Scharia-Konflikt in Nigeria (seit 2009) bis in unsere Tage mit Terror in Mali, die Irakkrise und der verheerenden Bürgerkrieg in Syrien seit 2011, der zugleich ein Krieg gegen den IS-Terror ist, dessen Ende noch niemand absehen kann. Weltweit leben in unseren Tagen 85 Millionen Menschen unter Bedingungen des Krieges wegen religiöser oder politischer Feindschaft, wegen Ausbeutung von Rohstoffen, unzumutbaren Lebensbedingungen, Krankheiten, Hungersnot, Klimakatastrophen und Epidemien. Wen dieser Zustand der Welt kalt lässt, hat kein Herz.

So nimmt es kaum Wunder, dass Gero Hellmuth seit den 90er Jahren bis heute sich in seiner Kunst zunehmend stärker mit den realen Existenzbedingungen der Menschen auseinandersetzt. Zwar bleibt er nach wie vor dem Dialog mit der Musik treu, im „Mendelssohnprojekt“, in der Zusammenarbeit mit den Komponisten Peter Hoch und Joseph Dorfmann etwa, doch die Themen seiner Zyklen werden brennend aktuell: Ob zum „Kreuz der Arbeitslosigkeit“ (1994) oder dem „Elend des Krieges“ (1995). Inspiriert und herausgefordert von der größten menschlichen Leidensgestalt der Bibel thematisiert er 1998 in seiner Ausstellung in Berlin in der Kirche am Hohenzollernplatz: „Hiob – ein Mensch“ und findet darin für mehrere Jahre ein existenzielles Grundthema.

In immer wiederkehrenden Variationen setzt er sich mit dem Aufbegehren des Menschen gegen erlittenes, unverschuldetes Leiden auseinander. Sein Hiob-Zyklus bestreitet die Ideologie, wer leide, sei verstrickt in Schuld und empfange die Strafe zurecht. Das biblische Buch Hiob widerspricht jeder gutgläubigen Rede vom gerechten Gott, denn es bietet das Bild eines unfassbaren Gottes, der das Leiden des Rechtschaffenen zulässt.

Unfassbar auch die menschenverachtende Barbarei des Holocaust, die Gero Hellmuth in seinem Ausschwitz-Zyklus thematisiert: 2003 in Berlin, im Kulturforum der Kulturstiftung St. Matthäus, zeigt er sein Projekt mit dem israelischen Komponisten Joseph Dorfman, Tel Aviv, unter dem der Bibel entnommenen Titel: „…dass sie leben.“

Ausschwitz, die Bombardierung Dresdens und Hiroshimas, ungeheure historische Ereignisse also, aber auch existenziellen Grundfragen wie der biblische Hiob, Themen, bei denen sich die menschliche Fähigkeit des Verstehens schier unüberwindbaren Grenzen gegenüber sieht, sind die Herausforderungen, denen sich Gero Hellmuth stellt, die ihn zu umfangreichen Werkkomplexen angeregt haben, zu Serien und Zyklen.

In Gero Hellmuths künstlerischem Werk geht es nicht um Schilderung, sondern um Empfindung, und diese basiert auf realer und konkreter, auch sehr persönlicher Erfahrung. Seine künstlerische Auseinandersetzung damit ist aber keine Illustration, auch nicht Agitation, sondern die Übersetzung in die absolute, „konkrete“ Form der künstlerischen Expression.
Hellmuth betrachtet seine Kunst nicht als etwas vom Weltgeschehen Isoliertes, sondern als Beitrag zu einem die Sphäre der Kunst überschreitenden Diskurs. Dies wird deutlich schon durch die Titel von Werken und Ausstellungen, zudem durch die Wahl des jeweiligen Ortes und Zeitpunktes einer Ausstellung. Die Integration musikalischer und szenischer Aufführungen steht zudem für den interdisziplinären Ansatz des Künstlers, dem es vor allem um Völkerverständigung, um die Beseitigung vor Kriegsgründen geht, aber auch um Vergangenheitsbewältigung. Und hier wird seine Kunst politisch: Gero Hellmuth stemmt sich gegen den Wunsch, die „Vergangenheit endlich ruhen zu lassen“; er wehrt sich aber nicht nur gegen das Vergessen und Verdrängen, sondern vor allem auch gegen die verbreitete Illusion: Man habe längst alles verstanden und damit bewältigt. Wie wenig etwa die Deutschen ihre Vergangenheit verstanden haben, zeigen die wieder aufkeimenden rassistischen Ressentiments und der aufkeimende Nationalismus hierzulande und in Europa insgesamt.

Besonders am Herzen liegt Gero Hellmuth die deutsch-polnische Beziehung. Deshalb reist er mit seinem Zyklus „Dass man mit ihnen redet“, der auch in der Singener Stadthalle gezeigt wurde, nicht nur durch Deutschland, sondern auch nach Warschau. Zur interdisziplinären Aufführung wird sie durch die Komposition des polnischen Komponisten Michal Dobrzynski und die Geigerin Ewa Gruschka. Ein Film, der bei der Uraufführung in Singen gedreht wurde, wurde jetzt in der Kunsthochschule in Breslau (Polen), Kulturhauptstadt 2016, gezeigt. Im Herbst 2017 bis Januar 2018 ist im Saarbrücker Landtag eine Ausstellung von Hellmuths Auschwitz-Zyklus zu sehen.

Wer glaubte, die furchtbaren Erfahrungen, die die Welt, besonders Europa und Deutschland durch zwei verheerende Weltkriege und den Holocaust machen musste, werde man nie mehr erleben müssen, sieht sich heute getäuscht: Angesichts der Auswirkungen der Globalisierung, der Gleichschaltung der globalen Existenzbedingungen, leben wir in einer gefährdeten Labilität: Wir werden diesen Planeten, diese einzige Heimat, die wir haben, nicht dauerhaft retten und bewahren können, ohne uns auf der Basis menschlicher Vernunft zusammen zu tun und die dringlichsten Fragen gemeinsam anzugehen: der dringende Ausgleich zwischen Arm und Reich, die weltweite Sicherstellung von Ernährung und Gesundheitsversorgung, die gemeinsame Anstrengung für eine Energieversorgung ohne Zerstörung der Natur, – und zu allererst: die Befriedung der Kriegs- und Bürgerkriegssituationen, die derzeit weltweit herrschen.

Diese beklemmende Einsicht hat Gero Hellmuth herausgefordert zu einem neuen Zyklus, den er in dieser Ausstellung zum ersten Mal in einer konzentrierten Werkschau präsentiert: „Schrei der Kriegskinder“

Im Unterschied zur Politik, den Machtzentren in Amerika, China, Russland und Europa, hat die Kunst wenig, was sie diesem Wahnsinn der Welt entgegenstellen kann. Ihre Mittel sind: Aufklärung, Bewusstmachung, Apell zum Umdenken und Handeln. Aber ihre Stimme bleibt ohnmächtig, angesichts der wahren Machtverhältnisse in der Welt.

Auch wenn die Stimme der Kunst kaum zu vernehmen ist im Getöse der Medien, einer wie Gero Hellmuth kann nicht schweigen. Resignation ist für ihn nicht denkbar. Man könnte meinen: Angesichts der Übermacht von Militär und Politik wirke der Widerstand der Kunst wie ein lächerliches Bemühen. Aber Gero Hellmuth kann nicht anders.

Albert Camus lässt seinen Sisyphos immer wieder gegen die Vergeblichkeit seines Tuns den schweren Stein der Hoffnung den Berg hinauf rollen. Und dieser Sisyphos gewinnt trotz der Vergeblichkeit seines Bemühens dennoch Sinn: Gerade weil er nicht verzagt, nicht aufgibt und sich immer wieder von neuem der Aufgabe stellt, gewinnt sein Tun Sinn: Den Sinn des Trotzdem! – Erst wenn wir die Hoffnung aufgeben, wenn wir vor der Welt kapitulieren, verliert unser Leben seinen Sinn.

Das ist es, was Gero Hellmuth antreibt. Mit jedem neuen Bild, jeder neuen Plastik, die er in die Welt setzt, setzt er sich gegen das „Gib auf!“ der Welt zur Wehr. Seine Arbeiten wenden sich gegen das Vergessen, in dem sie die Erinnerung wachhalten an die furchtbaren Verbrechen, seine Kunst wendet sich gegen Existenznot der Verlassenheit in den großartigen Arbeiten zu Hiob, und seine Kunst wendet sich nun vehement gegen die Herzlosigkeit, die Inhumanität der Welt, die ihren Schwächsten, den Kindern, nicht beisteht und sie beschützt.

Die Herkunft all der Arbeiten von Gero Hellmuth vom Informel, von der Tradition der gestischen Expression, wie sie in den Fünfziger Jahren entwickelt wurde ist hinlänglich bekannt. Insofern ist die Kunst Gero Hellmuths nicht voraussetzungslos. Die Überschreitung der Gattungsgrenzen, der „Ausstieg aus dem Bild“, die Integration von Objekt-Elementen und Fundstücken, das Einbringen von Zahlen und Schrift in den Bildraum, dies alles findet man schon bei den Kubisten und Dadaisten, bei Picasso, Braque und Schwitters, aber auch bei den klassischen „Informellen“ – etwa bei Tàpies, Dahmen oder Hoehme seit den 50er Jahren. Die Besonderheit, wie Gero Hellmuth mit diesen gestalterischen Möglichkeiten umgeht, vor allem auch, welche inhaltlichen Fragen er damit aufwirft, ist durchaus eigenständig.
Die Gegenwartskunst insgesamt ist längst an einem Punkt angelangt, an dem schlechterdings keine wirklich neue Erfindung mehr möglich ist. Wir befinden uns in einer Art Stauraum der Postmoderne, in dem sich die unterschiedlichen Kunstströmungen fast gleichberechtigt nebeneinander behaupten. Umso entscheidender wird, was ein Künstler aus der Fülle an formalen Möglichkeiten als eigene, unverwechselbare Ausdrucksform entwickelt. Doch das allein reicht heute nicht mehr aus: Genau so wichtig wird die Intension, angesichts einer Welt, die immer wieder neu zur Stellungnahme herausfordert. Die bloße Gestaltungseigenart allein bliebe leer, l’art puor l’art; ihre überzeugende Kraft bezieht sie aus ihrem inhaltlichen Anliegen. Inhalt, – das hat nicht von ungefähr mit Haltung zu tun. Mit unserer Haltung zur Welt. Kunst ist heutzutage nicht dazu da, unsere Welt schöner zu machen. Wohl aber kann sie uns Mut geben, sie besser zu machen.

Erstaunlich, dass Hellmuth gerade jene Kunstform, den abstrakten Expressionismus und das Informel, – also jene Strömungen, die sich nach der Erfahrung des Weltkrieges bewusst von jeder engagierten Stellungnahme abgewendet haben – heute als Medium nutzt, unzweideutig Stellung zu beziehen zu den drängenden Fragen der Gegenwart. Der Rückzug auf die scheinbare Autonomie der Form enthüllt in seinem Werk gerade, dass die Form, als konkrete Gestalt, immer auch die gegenständliche Welt zum Vorschein bringt. Am stärksten wirkt dies über die Ebene der Empfindung:

Hellmuths Kunst wird so in ihrer scheinbaren Formbestimmtheit zur Metapher sinnlicher Erfahrung von Gewalt, Unterdrückung, Vertreibung. In diesem Sinne ist sie ureigentlich engagierte Kunst: Ohne sich der vordergründigen Chiffren, der an der Oberfläche ablesbaren mahnenden Zeichen zu bedienen, ist sie Anklage – und bleibt doch Rätsel, Geheimnis. Der Kontext, die Bildtitel und die Ausstellungsthematik, bilden nur Richtschnur, Anhaltspunkt, – die Kunst selbst, das einzelne Bild, bleibt stets Herausforderung, es zu entschlüsseln. Mit dieser Aufgabe lässt Gero Hellmuth den Betrachter allein, bietet ihm allen Freiraum, sich entzünden zu lassen zu einer Emotionalität, die von Mitgefühl reicht bis zu Wut und Zorn.

Das Malerische in Hellmuths Werk entwickelt sich nicht nur über scheinräumliche Schraffuren und Texturen, dem Gewölk von Farbflächen, durchzogen von strukturierenden Linien, – es weitet sich oftmals aus über den Einsatz von verschiedenen Materialien, Verbindungen zwischen Bildträger, Farbmaterie und montierten Elementen – über Holz, Metall bis zu Gips – zur dreidimensionalen Assemblage, in der das Räumliche haptisch wird, während die Malerei sich mit der Illusion begnügt.

Neben dieser Verknüpfung von malerischem Bildgrund und plastischer Relieftechnik überschreitet Hellmuth auch im ikonischen Bestand seiner Arbeiten Grenzen: Ähnlich wie bei dem großen spanischen Künstler des Informel, Antoni Tàpies, findet man in zahlreichen Arbeiten von Gero Hellmuth Ziffern, Buchstaben, ja ganze Schriftzüge integriert. Sie gemahnen nicht nur an die uralte Herkunft der Schrift aus dem Bild, sie verweisen auf einer eigenen Bedeutungsebene über die gestische Expression hinaus auf das von Menschen gemachte der Wirklichkeit: Zahlen, Wörter, Ordnung, Zuschreibung, – die numerische Verwaltung der Welt zum einen, zum anderen der Bezug der Bildwelt auf die Schrift der Bibel oder auf ein Gedicht, deren Sprachbedeutung sich auf diese Weise unmittelbar einschreibt in den Bildraum.

Hier liegt denn auch die Spur, auf der historisches wie aktuelles Geschehen in Gero Hellmuths Malerei ihren Niederschlag finden: Etwa die Zahlenreihe, die an die tätowierten Nummern der KZ-Häftlinge erinnert, oder die Zahl 190, die die Todesopfer an der deutsch-deutschen Grenze benennt, das „Hindernis-173“, das auf eine Markierung in polnischen Seekarten verweist, wo bis heute die untergegangene „Wilhelm Gustlow“ auf Grund liegt, auf der bei der Flucht über die Ostsee 9000 Menschen umkamen.

In diesem Sinne sind Hellmuths Arbeiten einerseits zeitlos, andererseits mitunter erschreckend aktuell. Sie halten die Mahnung aufrecht, nicht zu vergessen, fordern die schonungslose Konfrontation mit Elend und Angst, aber sie verlieren bei aller Vehemenz nie ihre Poesie und Schönheit. Daher werden sie nie zu Manifesten der Resignation, sondern bleiben immer energiegeladene Zeichen der Hoffnung. Sich mit ihnen intensiv zu beschäftigen in einer Situation, in der sich die Anzeichen mehren für einen fatalen Weg zurück in den überwunden geglaubten Kalten Krieg und das nur allzu gut bekannte unselige Wechselspiel von Misstrauen, Drohung und Vergeltung, scheint vor allem geboten angesichts der aktuellen Schrecken in den Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten.
Egal, wohin man schaut: Ob auf die Kriegsflüchtlinge aus Syrien, die politisch Verfolgten in vielen afrikanischen Staaten, die Unterdrückung und Vertreibung, ja den Genozid von religiösen Minderheiten etwa in Myamar, die zu Hundertausenden nach Bangladesh fliehen, wo ihre Zukunft noch längst nicht gesichert ist, – überall sind es vor allem die Kinder, die am schwersten unter den unmenschlichen Lebensbedingungen leiden. Wenn sich das Schicksal des Hiob heute irgendwo in der Welt erneut auf schreckliche Weise wiederholt, dann ist es im Erleben dieser Kinder, die hilflos und unschuldig den Schrecken von Krieg, Bombardierung, Verschleppung, Vertreibung und Tod ausgesetzt sind.

Ihre Leidensgeschichte ist ein halbes Jahrhundert lang: Von den verzweifelten, schmerzverzerrten Gesichtern der vietnamesischen Kinder, die dem Napalm-Bombenhagel zu entkommen versuchen, über das ungeheure Gemetzel im Völkermord in Ruanda, die Schrecken der Verrohung bei den afrikanischen Kindersoldaten, bis zu den nicht auszuhaltenden Bildern aus den Kriegsschauplätzen in Syrien und der verzweifelten Flucht über den Balkan oder auf unsicheren Booten übers Meer.

Ihnen stiftet Gero Hellmuth mit seinen neuesten Arbeiten ein mahnendes Denkmal. „Schrei der Kriegskinder“: In großflächigen Tafelbildern nähert er sich dem bestürzenden Thema. Und wieder folgt die Werkentwicklung der Bildung von Gruppen der Variation.
Am deutlichsten kommt sein Engagement dort zum Ausdruck, wo Versatzstücke der Realitätsabbildung (Köpfe, Kinderaugen, schreiende, klagende Münder) sich als durchscheinendes Abbild unter der formalen Behandlung von Flächen, geometrischen Figurationen und der feinnervigen Lineatur in den Blick drängen, und damit die Lesbarkeit eines Bildes nahelegen. Eine vielschichtige Lasur von durchscheinenden und verdeckenden Partien, so als quäle sich die Deutlichkeit nur unter dem Schmerz des Mitempfindens zur Oberfläche, durchsetzt, überzogen von Schriftzeichen, die den Namenlosen eine zaghafte Stimme geben wollen, aber auch Versatzstücke zerstörter Architektur, heimgesucht von der Zerstörungsgewalt von Bomben, und überall das tränenartig rinnende Weiß, die beginnende Auflösung im Nichts.
Eine eigene Gruppe bilden die Tafelbilder „Kriegskinder im Fadenkreuz“: Eine fatale Symbolähnlichkeit mit dem Zeichen des Kreuzes, sowohl als Durchblick auf ein dahinterliegendes unaussprechliches Leid, wie auch als Menetekel des Ausgeliefertseins. Auch hier finden sich Andeutungen von Zahlen, Hinweise auf Jahresdaten und Opfernummern, ob im brennenden Feuer explosiver Zerstörung oder im kühlblauen Dunst der herzlosen Kälte. Irritierend zugleich die berückende Schönheit dieser Bilder des Schreckens.

Eine weitere Gruppe von einzelnen Tafelbildern verweisen auf tatsächliche Schauplätze: „Kriegskinder vor der Grenze“, ein imaginärer Farbraum aus braunroten Tönen, dem sich die Schrift als HINDERNIS in vielen Sprachen entgegenstellt, oder „Kriegskinder zwischen den Grenzen“, aus dem uns wieder ein Kinderantlitz, gefangen in expressiven Farbspuren und Ziffern, fragend aus der Tiefe anschaut und nicht mehr loslässt. In „Kriegskinder – Mittelmeer als Friedhof“ gar ist jede figürliche Anspielung verschwunden; was bleibt, sind nur noch die unerbittlichen Tatbestände der Nummern, die als gnadenloses Zählwerk vom Untergang des Menschlichen zurückbleiben.

So verschieden die Themen und inhaltlichen Engagements von Gero Hellmuth auch sein mögen, es zeigt sich doch in allen Arbeiten eine durchgängige formale Zusammengehörigkeit: Vor allem das Arbeiten in Serien oder Zyklen. Kein bildnerischer Gedanke ist mit einem Einzelwerk erledigt. Varianz, Ausdifferenzierung sind bestimmende Merkmale. Es scheint, als lasse sich das einmal Gefundene nur durch Fortsetzung, Überprüfung, Weiterführung, Ergänzung, mehrfache Erforschung bis in die Tiefe ergründen. Variationen eines Themas, Entfaltung seiner Komplexität, Auskosten der Verschiedenheit im Ähnlichen und der Ähnlichkeit im Verschiedenen. Wirkungsvoll eingesetzte, kraftvolle Farbakzente gehören dazu, aber noch mehr die scharfen Kontraste und feinen Übergänge zwischen Hell und Dunkel. Dies, ebenso wie die Dominanz des Linearen, verweist darauf, dass Hellmuths eigentliches Metier die Zeichnung ist, mit ihrer expressiven Linie, die sich sowohl zur Fläche ausbreiten, aber auch mühelos in den dreidimensionalen Raum hinaus entfalten kann.
Die Einbindung der Schrift in die Raumillusion, und immer wieder die Zahl, besonders die 19, eine Häftlingszahl, die an das Unrecht der Konzentrationslage erinnert und die den Bogen von der Vergangenheit zur Gegenwart spannt. Die Zahl symbolisiert die Entmenschlichung, die Degradierung eines Individuums zu bloßen Nummer.

Sie findet sich auch in den drei zusammen gehörenden Tafelbildern: „Schrei der Kriegskinder“, die in ihren mächtigen Farbakzenten von Rot, Schwarz und Weiß mit zu den stärksten Arbeiten dieser Ausstellung zählen. Nicht nur ihrer Kontraststärke, sondern ihrer vollständig gelungenen Abstraktion wegen: Es scheint, als habe sich in diesen Bildern die ganze Ungeheuerlichkeit und Not, der Schmerz und das ganze Leid dieser Kinderschicksale in reine Farbe und Form verwandelt. Die Kunst Gero Hellmuths ist in diesen Arbeiten – nach dem Durchgang durch die thematisierte Erfahrung – ganz zu sich selbst zurückgekehrt. Alles, was sie zu sagen und anzuklagen hat, ist anwesend, und doch verwandelt in reine Expression von Farbe und Form.

Ästhetischer Genuss, das Bewundern spannungsreicher Kontraste, ist dadurch möglich, mindert aber nicht im Geringsten den Ernst dessen, was da an Inhaltlichem aufscheint. In dieser Form bietet das Kunstwerk keine Antworten auf bohrende Fragen, keine entlastenden Erklärungen, keine Hilfen zum Verständnis, wohl aber die Aufforderung, sich der unausweichlichen Kraft dieser Bilder zu stellen und damit die eigene Haltung, das eigene Mitgefühl zu bedenken. Kunst, so kann sich hier zeigen, weist umso mehr über sich selbst hinaus, je konsequenter sie bei sich selbst bleibt, je unbedingter sie ihren eigenen Regeln folgt.

Gero Hellmuth, selbst Kind der Weltkriegszeit und Flüchtling aus Mecklenburg-Vorpommern, lässt das Thema Krieg, Flucht und Vertreibung nicht mehr los. Er fühlt mit den Menschen, die auf der Flucht vor dem Krieg und hier auf der Suche nach Asyl sind, besonders mit den Kindern, die zum Teil in ihrem Leben nichts anderes als Krieg und Flucht erlebt haben, oder die in Form von Kindersoldaten als Kriegsmaterial eingesetzt wurden. An ihr Leid zu gemahnen, uns aufzurütteln gegen den Wahnsinn von Krieg und Vertreibung, ist die Botschaft dieser Ausstellung. Nur so aber kann sie uns erreichen – nicht um sie zu verstehen, sondern um von ihr berührt zu werden.