Erzeugte Erschütterungen
Gero Hellmuth reflektiert Auschwitz
Gero Hellmuths Kunst ist Gegenwartskunst. Sie befasst sich mit Aspekten einer
Geschichte, die Teil unserer Gegenwart sind. Dies einerseits auf sehr persönliche
und damit authentische Weise, andererseits aber als objektive Gestaltung im
autonomen Bereich der Kunst und ihrer Eigengesetzlichkeit. Nur so aber kann sie
uns erreichen – nicht um sie zu verstehen, sondern um von ihr berührt zu werden.
Dabei können sich Wege der Erkenntnis eröffnen, die über das simple und häufig
vorschnelle Verstehen hinausweisen.
Da ist ein Künstler, der sich Fragen stellt und dabei weder sich selbst nocden
Betrachter schont, freilich jeden vordergründigen Nervenkitzel meidet. Man schreit
nicht auf angesichts dieser Bilder und Objekte, wendet sich nicht angeekelt ab,
wird vielmehr still und nachdenklich.
Hellmuths Werk bietet keine Antworten auf bohrende Fragen, keine entlastenden
Erklärungen, wohl aber die Aufforderung, die eigene Einstellung, das eigene
Verhalten zu überprüfen und hinsichtlich möglicher Konsequenzen zu
hinterfragen. Kunst, so zeigt sich wieder einmal, weist umso mehr über sich selbst
hinaus, je konsequenter sie bei sich selbst bleibt, je unbedingter sie ihren eigenen
Regeln folgt
.
Franz Joseph van der Grinten hat dies, konkret bezogen auf Hellmuths Arbeiten,
in einem seiner wunderbaren Texte wie folgt formuliert: „Es sind erzeugte
Erschütterungen, aus den eigenen Betroffenheiten in eine autonome Sprache
übersetzte. Sie sind kontrolliert. Sie sind bedacht, sie haben vor einem kritischen
Blick Gestalt angenommen. Es ist ein klärender Dialog, dessen der Betrachter
Zeuge wird. Selbst im Grübeln ist es ein Durchdringen, und selbst durch tiefste
Dunkelheiten führt der Gang nicht in ein nebelhaft Unfassbares, sondern was
letztlich unfassbar bleibt, gebiert Erkenntnis. Gero Hellmuth weiß, dass Ausdruck
durch Form erzeugt werden muss. Das ist es, was Kunst leisten soll und kann.
Was darüber ist, wäre vom Bösen.“
In zahlreichen Bildern tritt, teils versteckt, teils offensichtlich, mitunter
monumental oder auch gehäuft, schablonenartig stilisiert, die Zahl „19“ formal und
inhaltlich auf.
Gero Hellmuth hat sie einem Dokumentarfilm über das Lager Auschwitz
entnommen und zum Leitmotiv seines Auschwitz-Zyklus gemacht, der 1995 bis
2003 entstand, verwendet sie aber auch später noch häufig. Sie erinnert an die
tätowierten Nummern der KZ-Häftlinge, die nur noch als Zahlen registriert wurden,
nachdem man sie ihrer Individualität und Würde beraubt hatte. Immer wieder
begegnet man dieser Zahl; im Bild „Hügel der Trauer“ häufen sich die Ziffern wie
ein Berg von Knochen. Doch die magische Zahl ist nicht nur Erinnerung an die
Vernichtungslager. Sie ist zugleich die Chiffre des vergangenen Jahrhunderts und
wird als solche dem Betrachter eingehämmert, geradezu schmerzhaft
eingebrannt. Was hat uns dieses Jahrhundert alles gebracht an Schmerz und
Katastrophen, an Schuld und Verzweiflung, aber schließlich doch auch an
Befreiung,Einsicht, Vergebung und Frieden.
Ein Schlüsselwerk, entstanden 1995, ist zweifellos das große Triptychon
„Auschwitz / Befreiung“. Die drei Tafeln aus Holz sind wie die eines spätgotischen
Flügelaltars durch Scharniere miteinander verbunden, doch ist an die Stelle
hieratischer Statik ein labiles Gleichgewicht getreten. Dynamische Linien aus
Eisen verbinden die sehr unterschiedlichen Teile, führen – in Leserichtung von
links nach rechts – vom Licht über den Einbruch dämonischen Dunkels, über
Zerstörung und Chaos erneut zur Helle. Doch was sich unter dieser verbirgt, ist
nicht präzise auszumachen. Sind es wirklich nur die Schatten der Vergangenheit?
Ist wirklich endgültig überwunden, was vergangen ist? Die Mitteltafel erinnert an
eine Tür – Symbol der Öffnung, aber auch des Verschließens. Vieles bleibt offen,
stellt Fragen an den Betrachter.
„Zeitzeuge / Brücke in die Zukunft“ lautet der Titel einer anderen Arbeit, ebenfalls
aus den Jahr 1995. Sie besteht aus einem „Object trouvé“, einer Schiffsplanke,
die den Unrtergang überlebt hat – auch dies bis hin zum Titel ein ungewollt
aktuelles Motiv, eine fast erschreckend prophetische Arbeit. Wie von einem
Schatten wird die Planke von einer Stele hinterfangen, aus deren Dunkel die 19-er
Ziffern gleichsam heruntertriefen und sich im Nirgendwo verflüchtigen.
Hellmuths Arbeiten sind ebenso zeitlos wie – mitunter erschütternd – aktuell.
Dunkel ist in ihnen, die Mahnung, nicht zu vergessen, die schonungslose
Konfrontation mit Elend und Angst, aber auch Poesie und Schönheit. Doch nie
sind sie Manifeste der Resignation, sondern immer energiegeladene Zeichen der
Hoffnung. Sich mit ihnen intensiv zu beschäftigen in einer Situation, in der sich die
Anzeichen mehren für einen fatalen Weg zurück in den überwunden geglaubten
Kalten Krieg und das allzu bekannte unselige Wechselspiel von Mißtrauen,
Drohung und Vergeltung, könnte das Gebot der Stunde sein. Haben wir nichts
verstanden oder meinten wir nur, allzu vorschnell, alles verstanden zu haben?
Auf jeden Fall brauchen wir Künstler wie Gero Hellmuth und eine Kunst wie diese.
Autor: Hans Gercke, Kunstkritiker, Feuilletonredakteur, Honorarprofessor ran der Pädagogischen
Hochschule Heidelberg, bis 2006 Direktor des Heidelberger Kunstvereins.