Gero Hellmuth und Michał Dobrzyński auf Ebene 4 der Philharmonie Stettin / Filharmonia Szczecin

Künstlerische Brücke zur Hoffnung

In der Szczeciner Philharmonie zeigt man eine Ausstellung mit Zeichnungen, Bildern und Reliefs von Gero Hellmuth unter dem Titel „Hiob“. Sie wurde Anfang März eröffnet und ist nur noch bis zum nächsten Sonntag zu sehen. Die Kürze der Zeit ist bedauerlich, denn es handelt sich um eine der wichtigsten Ausstellungen moderner Kunst in Szczecin.

 

Bei der Vorbereitung arbeitete der Künstler mit Michał Dobrzyński zusammen, einem Komponisten der jungen Generation. Hellmuth ist vierzig Jahre älter als der gebürtige Stettiner, aber die Zusammenarbeit der beiden durchbricht die Grenze zwischen den Generationen auf ganz eigene Weise.

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Am Tag der Eröffnung führte Gero Hellmuth den Stadtpräsidenten von Szczecin, Herrn Piotr Krystek, und den Abgeordneten Norbert Obrycki, ihren Initiator, durch die Ausstellung. In Organisation tritt die Stadt Szczecin auf, das Patronat hat die Genaralkonsulin der BRD in Gdańsk, Frau Cornelia Pieper.

Leiden – Hoffnung

Wie im Begleitmaterial nachzulesen ist, stand die Zusammenarbeit, die der deutsche Künstler angeregt hatte, unter dem Motto: Aufeinander zugehen“, Aufeinander zugehen, das bedeutet – weiter im Zitat – „die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Polen und Deutschland durch Zusammenarbeit im kulturellen Bereich zu fördern und zu vertiefen.“ So grob und furchtbar klischeehaft das klingen mag, zumindest in der offiziellen Übersetzung, ist die Kunst doch eben dafür da, sprachliche Grenzen wie auch Stereotype zu überwinden.

Am selben Tag, an dem Gero Hellmuth seine Ausstellung auf Ebene 4 eröffnete, spielte im Kammermusiksaal das Karłowicz String Quartet Werke von Michał Dobrzyński. Die Violinistin Ewa Gruszka-Dobrzyńska brachte ihre Improvisationen zu Gehör. Der Künstler hat den jungen polnischen Schöpfer selbst ausfindig gemacht und ihn zur Zusammenarbeit eingeladen.

Geboren wurde er 1940 in der Residenzstadt Neustrelitz in Mecklenburg. Als Kind erlebte er die Hölle von Krieg und Flucht. Viel ist ihm davon nicht in der Erinnerung geblieben, doch im Gefühl haben die Erfahrungen tiefe Spuren hinterlassen. Heute lebt er im westdeutschen Singen. Sein Studium absolvierte er an der Akademie der Schönen Künste in Karlsruhe, wo der Maler und Bildhauer Klaus Arnold zu einem seiner Lehrer wurde, ein Urheber bekannter Reliefs und Skulpturen.

In der Mannheimer Philippuskirche hängen zwei seiner Reliefs mit korrespondierenden Zitaten aus dem Johannesevangelium. Eines außen an dem Gebäude, über dem Haupteingang: „Philippus spricht: Herr, zeige uns den Vater!“, das andere im Kircheninneren: „Wer mich sieht, der sieht den Vater.“ Die beiden Zitate ergänzen sich. Im ersten klingt deutlicher Zweifel durch, im zweiten die Hoffnung.

Das Kreuz der Arbeitslosen

Zu den Lehrern Hellmuths zählte auch Prof. Peter Dreher, ebenfalls Maler und Bildhauer. In seinen Arbeiten sind Wort und Klang gleich bedeutsam, die Alltäglichkeit wie auch die Reflexion über sich selbst, über die eigene Menschlichkeit. Hellmuth studierte auch Kunstgeschichte und Philosophie.

Seine Arbeiten stellt er hauptsächlich in Deutschland aus. Er ist u. a. Schöpfer von Skulpturen, darunter „Das Kreuz der Arbeitslosen“, ein Werk, das immer wieder von Ort zu Ort bewegt und vor Betrieben aufgestellt wird, deren Arbeitern die Entlassung droht. Dieses Kreuz wurde von der Zentrale des Gewerkschaftsbundes IG Metall ausgezeichnet.

Aus alldem geht hervor, daß das künstlerische Schaffen für Hellmuth eine stark gesellschaftlich akzentuierte Tätigkeit darstellt. Sie steht nicht für sich. Wir haben es hier mit einem Künstler zu tun, der sich mit den pulsierenden Problemen des modernen Alltags verbindet. Es versteht sich von selbst, daß seine Arbeiten diese Probleme nicht lösen können, doch sie können dafür sensibilisieren, ihre Bedeutung akzentuieren, sie mit einer verdichteten Atmosphäre aus fühlbar symbolischen Bedeutungen umgeben, die nicht immer in Worte zu fassen sind.

Hellmuth zielt tief in die kulturellen Verstrickungen unserer Gesellschaft. Er entwirft auch grotesk-karnevaleske Wandmalereien, und er ist Autor einer Skulptur an einem Ort, der symbolisch für den plebejischen, grotesken Karneval steht. Und suggeriert uns damit, daß wir selbst darin enthalten sind, unsere eigene pulsierende Wirklichkeit.

Der Friede des Hiob

Diese Wirklichkeit ist auch aus der geschichtlichen Erinnerung gewebt, in die wir durch Bindungen der Generation, der Kultur, des Nationalen eingetaucht sind. Sie bleibt lebendig, solange sie uns beunruhigt, schmerzt, inspiriert, solange wir die Fragestellungen erraten, die sie uns aufgibt und solange wir nicht aufhören, ihr unsere Fragen zu stellen.

Zwischen der Geschichte, der Gegenwart und der Zukunft lassen sich viele Brücken schlagen. Gero Hellmuth bewegt vor allem die Brücke vom Leiden zur Hoffnung, jahrhundertealte Erfahrungen und Fragen des Menschen. Deshalb ist ihm das Buch Hiob so wichtig, eines der schwierigsten der Heiligen Schrift.

Hiob litt unverdient. Er empörte sich gegen Gott, fragte ihn, wie jeder Mensch: Warum ich? Von seinen Nächsten wurde er fälschlich einer Schuld angeklagt, die ihm nicht zukam, doch konnte er das nicht beweisen. Und schließlich nahm er das Leiden als eine Erfahrung des Lebens an, doch zugleich durchbrach er eine Grenze, überwand den Protest, erkannte eine „höhere Instanz“, fand Trost und inneren Frieden.

Das Böse nicht vergessen

Hellmuth zielt auf die schwierigsten, die schmerzhaftesten Fragen, deren Auftreten und deren Lösung bis heute Leiden hervorruft. Zu seinen Arbeiten gehört der Zyklus „Auschwitz“, inspiriert u. a. durch Erlebnisse und durch Reflexionen über Dokumentarfilme, welche die ausgehungerten Häftlinge eines Lagers am Tag der Befreiung zeigten, die nicht glauben können, daß sie frei sind, unschlüssig, ob sie den Zaun durchschreiten oder im Lager bleiben sollen. Der Künstler erinnert sich, wie er beim Ansehen dieses Filmes auf der Hand eines der Häftlinge eine eintätowierte Zahl sah, in der u. a. die Ziffern 1 und 9 vorkamen. Diese Zahlen wurden für ihn zum Symbol für die Menschen, denen man Gesicht und Namen geraubt hatte, zum Symbol für das 20. Jahrhundert – eine Zeit der Kriege, verschuldet von Deutschen, und des Übermaßes an Leid, das sie anderen Völkern und in letzter Konsequenz auch den eigenen Kindern zugefügt hatten. Die Ziffern 1 und 9 sowie die Zahl 19 erscheinen in vielen späteren Arbeiten des Künstlers, u. a. in dem Zyklus „Schrei der Kriegskinder“.

Eine der Arbeiten aus dem Auschwitz-Zyklus, das Triptychon „Auschwitz/Befreiung“ gelangte auf den Altar in der St.-Matthäuskirche in Berlin. Zur Umsetzung seiner Idee lud Gero Hellmuth den israelischen Komponisten Joseph Dorfman als Kooperationspartner ein, der für dieses Ereignis eine Kantate für Tenor, Baßbariton und Chor a cappella schrieb. So entstand ein gemeinsames Werk mit dem Titel „…dass sie leben“ (“…że oni żyją“). Unter den Texten, die Dorfman zur Vertonung herangezogen hatte, waren Fragmente aus dem Buch Hiob und der „Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk“ von Jizchak Katzenelson, Jude aus der Gegend von Nowogródek, Held des Warschauer Ghettos, der zusammen mit seinem Sohn in Auschwitz ermordet wurde. Zwei Jahre zuvor war seine Frau mit zwei jüngeren Söhnen in Treblinka umgekommen. 

Bei der Präsentation des Auschwitz-Zyklus sagte Hellmuth, daß diese Werke Aufrufe „gegen das Vergessen“ seien. Mehr noch, sein ganzes Schaffen stellt sich gegen das Vergessen. Der Künstler unterstreicht dabei, daß er, wenn er auch den Akzent auf die Notwendigkeit des Erinnerns legt, immer zugleich die Hoffnung sucht – „die Brücke zu einer menschlichen Zukunft“, die „eine lebendige Form des Gedenkens“ wäre. Das Böse darf nicht vergessen werden – so warnt er.

Zum 70. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs richtete Gero Hellmuth eine große Ausstellung in der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft in Berlin aus. Im vergangenen Jahr zeigte er in Hilzingen seinen Zyklus „Schrei der Kriegskinderr“, enstanden unter dem Eindruck des Andrangs einer Welle von Flüchtlingen nach Europa, insbesondere aber unter dem Eindruck des Leidens der Kinder.

Im letzten Jahr wurde der Zyklus „Hiob“ in Saarbrücken gezeigt, hier erstmals zusammen mit der Musik Michał Dobrzyńskis.

Wer anklopft…

Die Ausstellung in der Philharmonie ist der Bau einer Brücke zur Zukunft zwischen Polen und Deutschen, wobei sie natürlich nicht alleine dazu beiträgt. Als unbewältigtes Trauma ist das Thema des Krieges und des Leidens, wie immer bei Gero Hellmuth, darin gegenwärtig. Doch zugleich ist die Hoffnung kraftvoll darin eingeschrieben.

Parallel zeigt der Künstler auf Ebene 4 Bilder und Reliefs aus den „Hiob“-Zyklen sowie, suggestiv dazwischen eingefügt, den Zyklus „Kinder. Opfer zwischen den Grenzen“.

Die Ausstellung enthält eine kleine Assemblage mit dem Titel „Fundstück“. Es ist ein metallener Türklopfer, aus einem Haus geborgen, auf einem Stück Holz. Darunter findet sich ein Stück weißen Papiers mit einem rötlichen Fleck. Neben der Skulptur hat Gero Hellmuth ein Gedicht angebracht, das von einem Menschen handelt, der zur Türe tritt und sich fragt, ob es sich lohnen würde, dort anzuklopfen. Wer wird ihm die Tür öffnen? Wird er mit ihm ein Gespräch beginnen können? Er gibt sich die Antwort, daß es sich wohl lohnen wird, geht es doch um die Begegnung mit einem Partner, mit einem anderen Menschen.

Doch von der anderen Seite tritt ebenfalls ein Mensch an die Tür heran. Er stellt sich seinerseits die Frage, ob es wert ist, dem Anklopfenden zu öffnen…

Hellmuth schreibt: „Polen und Deutsche, zwei Völker, miteinander verbunden durch das unvorstellbare Leid, das der nationalsozialistische Terror über sie gebracht hat. Bis heute erschreckt die Zahl seiner Opfer. (…) Die Assemblage „Der Türklopfer“ weist auf den unschätzbaren Wert des Vertrauens hin, das trotz einer unglücklichen Vergangenheit in den vergangenen sieben Jahrzehnten zwischen unseren Völkern gewachsen ist. Und hundertmal begann es damit, daß einer an eines anderen Tür klopfte…“

Ein Hoffnungsschimmer

Sowohl die Reliefs als auch die Malereien Gero Hellmuths wurzeln in der Tradition des Expressionismus. Sie sagen nichts direkt – sie wollen den Betrachter zur Reflexion über das Schicksal Hiobs anregen, das im Grunde unser eigenes Schicksal ist, über das Wesen des Leidens, das mit der Reflexion darüber schwinden sollte.

Hellmuth knüpft in seinen Arbeiten nicht direkt an die Geschichte an. Deutlich sprechen von ihr nur die Ziffer 19 auf den Bildern, oder die Figuren, die den Zahlen 1 und 9 nachempfunden sind. Seine Arbeiten wollen mit Konzentration betrachtet sein, um beispielsweise die Symbolik der geraden Linie erspüren zu können, die vielleicht für den Verlauf der geschichtlichen Zeit steht, oder die der Bogenform, die den Bau einer Brücke zu einer Verständigung über die Zeit hinweg bedeuten könnte. In den Reliefs dagegen ist der Gegensatz zwischen dem Dauerhaften, Eisernen und dem Unbeständigen bedeutsam, symbolisiert durch die darin enthaltenen hölzernen Elemente, sowie auch der Gegensatz zwischen der Oberfläche und dem, was sich möglicherweise darunter befindet.

In den Bildern des „Hiob“-Zyklus werden Destruktion und Rekonstruktion sichtbar, mit dynamischer Silhouette darin eingeschrieben, bis hin zu der Farbigkeit, die in Abtönungen von Grau gehalten ist, und hin zu feinen Andeutungen anderer Farben, die das Erscheinen der Hoffnung symbolisieren.

Kinder. Opfer des Krieges

 

Erschütternd ist der Zyklus „Kinder. Opfer zwischen den Grenzen“, der bedeutungsvoll zwischen den „Hiob“-Zyklen angeordnet ist. Er knüpft an historische und aktuelle Ereignisse an, spricht von den Kindern, den tragischsten unter den Opfern von Krieg und Flucht.

Auch die Kinder stellen die Frage: Warum? Ebenso, wie die Erwachsenen, gleich Hiob, diese Frage an Gott richten, so stellen die Kinder sie den Erwachsenen. Auf den Bildern von Hellmuth dominieren Rot und Schwarz als Farben von Zerstörung und Tod. Auf einem Bild zeichnet sich die Kontur eines Zöllners ab, auf einem anderen ein Kreuz, dazu suggestive Rinnsale von Farbe, die an Tränen denken lassen…

Im Ausstellungskatalog schreibt der Autor: „Der Schrei der unschuldigen und wehrlosen Kinder muß uns alle treffen. Kinderaugen können sprechen, fragen. Sie stellen stumme, durchdringende Fragen: Was haben wir Euch getan? Was bringt Euch dazu, uns den Frieden zu nehmen, das Gefühl der Sicherheit, die Liebe, die schützenden Arme der Eltern?

Eine neue Qualität des Dialogs

Schade, daß die Zeit für die Ausstellung der Arbeiten Gero Hellmuths in Szczecin so kurz bemessen ist – nur bis zum kommenden Sonntag. Wenngleich auch Musik in ihr eingeschrieben ist, läßt sie sich nicht in der Kürze der Pausen zwischen den Teilen eines Konzerts würdigen. Sie ist anspruchsvoll, sie verlangt eine Konzentration, um die Barrieren der Sprache, derer sie sich bedient, zu überwinden, die so anders ist als unsere Sprache der Alltäglichkeit. Doch erst, wer diese Grenze durchbricht, wird in der Lage sein, die Kraft, die Innovation und den Ernst des künstlerischen Vorwurfs von Gero Hellmuth zu erkennen. Seine Zusammenarbeit mit Michał Dobrzyński ist auch Entwurf für eine neue Qualität im polnisch-deutschen Dialog – als eine Brücke der Hoffnung.

Bogdan Twardochleb

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Eröffnung der Ausstellung am 14. März 2018 in der Philharmonie Stettin

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Besucher der Ausstellung studieren die ausführlichen Titel der Exponate.