DE PROFUNDIS Zu Gero Hellmuths Zyklus „Schrei der Kriegskinder“

I Dem „Schrei der Kriegskinder“, wie er aus Gero Hellmuths Bildern hervorbricht, wird sich kaum einer der Betrachtenden entziehen können. Dabei bedient sich der Künstler einer Bildsprache, die sich der Peinlichkeit gegenständlicher Wiedergabe all des Furchtbaren, das ihn bewegt, enthält und jeden Anflug von Sensation vermeidet. Doch die Intensität der Arbeiten, die wesentlich von Empathie geprägt ist, aber auch von Trauer und Wut, vermittelt sich dem Betrachter unmittelbar, auch wenn er nicht auf Anhieb all die persönlichen Chiffren und ikonographischen Zeichen entschlüsseln kann, die das gestalterische Konzept des Künstlers bestimmen.
So wenig Kunst im luftleeren Raum entsteht, so sehr sie, wenn sie authentisch ist, von konkreten Erfahrungen und Berührungen ausgeht, so wenig lässt sie sich einschränkend auf bestimmte Fakten festlegen, auch nicht in der historischen Historienmalerei. Immer klingt Zeitlosigkeit und damit Aktualität an, Anfrage an uns, die Betrachtenden, immer wieder gibt es neue Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Anknüpfung, und nie fehlt dabei auch die Perspektive der Hoffnung. Wäre dem nicht so, hätte Adorno recht mit seiner Aussage „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch“ (1949).
Aber: Wir brauchen Gedichte, auch heute noch und gerade heute. Wir brauchen die Kunst, brauchen Poesie, Musik, Malerei, gerade in einer Welt, die immer wieder von Rückfällen in die Barbarei geprägt ist. Und wir brauchen Künstler wie Gero Hellmuth, die sich damit nicht abfinden. Die dem Schrecken trotzen, dem Schreck
lichen Widerstand leisten, und sei es auch nur durch den sanften, nicht messbaren, dennoch in seiner Langzeitwirkung nicht zu unterschätzenden Einfluss der Kunst.
Der Ausgangspunkt solcher Kunst ist keineswegs beliebig. Konkrete Ereignisse – an Meldungen in den Medien mangelt es nicht, und heute kann keiner sagen, er habe von alledem nichts gewusst – und persönliche Betroffenheit sind Voraussetzungen einer Kunst, die betroffen macht. Dabei ist sie generell vielschichtig, für Interpretationen unterschiedlicher Art offen, und sie folgt ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Nur so kann sie wirklich Kunst sein, und nur als solche kann sie bewegen, auch in der ihr eigenen Schönheit, die nichts von Beschönigung an sich hat und nichts von einer Relativierung oder gar Glorifizierung des Grauens.
Gero Hellmuth selbst hat sich hierzu wie folgt geäußert: „Die Thematik des Zyklus Schrei der Kriegskinder ist sehr dunkel. Und es wäre mir nicht schwergefallen, sie in ihrer ganzen Brutalität darzustellen. Das aber will ich den Medien überlassen, die damit auch in einem gewissen Maß der Öffentlichkeit gegenüber ihre Aufgabe erfüllen. Meine Bilder umgehen oder vermeiden diese Dunkelheit nicht; sie ist vielmehr eine Klage und ein Aufschrei, eine Anklage und ein Schrei in die Welt hinaus, die dieses unsägliche Geschehen, dieses Martyrium an den Kindern zulässt.
Aber zugleich enthalten sie eine gewisse Ästhetik, und das soll kein Widerspruch sein. Der Malvorgang ist mit einer tiefen Trauer um die gequälten, wehrlosen Kinder verbunden. Die in diese Bilder eingeflossene Ästhetik sehe ich als ein Verbeugen vor den Kindern in ihrem ganzen Unglück, denen das Recht auf eine freie menschliche Entfaltung brutal verweigert wird. Während des Malvorgangs schließe ich unwillkürlich alle Kinder weltweit ein, denen die natürlichen Menschenrechte auf die vielfältigste Weise entzogen werden.“  


II Die neuen Bilder sind groß und düster, Bilder der Trauer, aber auch des Aufschreis, von dem ihr Titel kündet. Sie stehen als konsequente Weiterentwicklung ganz in der Tradition früherer Arbeiten, und manche Details wie etwa die in Kaskaden fließende Farbe und die immer wieder auftretenden Buchstaben und Zahlen finden sich auch hier. Aber das Grafische, Lineare, das für frühere Arbeiten so charakteristisch war und sich zum Teil in dreidimensionalen Metall-Linien, in Draht und Eisen-Elementen in den Raum hinein fortsetzte, fehlt. Die Bilder konzentrieren sich, vergleichsweise konventionell, auf Farbe und Fläche, vielschichtig erzählt Malerei von Schicksalen, die sich zu einer kaum noch oder auch gar nicht mehr tragbaren Last überlagern. Räumlichkeit entsteht als Blick in einen bodenlosen Abgrund, in eine Tiefe, aus der, wie der bewegende Psalm 130 formuliert, „de profundis“ in glimmendem oder aufloderndem Rot der Schrei hervorbricht.
Rot, die Farbe des Lebens, des Blutes, des Zornes, der Verletzung, aber auch der Liebe und Leidenschaft kam bisher in Hellmuths zumeist erdhaft getönten Bildern allenfalls sporadisch vor. Nun aber tritt sie, zunächst verhalten glimmend, verglimmend, dann aber glühend, glutvoll, expressiv, explosiv, lodernd in aufrüttelnd forderndem Fortissimo dem Betrachter entgegen. Rot hat bekanntlich im Raumspektrum der Farben die Eigenschaft, dem Betrachter entgegen zu stürmen, im Extremfall, ihn zu bedrängen, im Gegensatz zum Blau, das sich und ihn in die Ferne und Weite entzieht. Hinzu kommen in diesen Bildern vor allem die konträren Extrem-Töne Schwarz und Weiß, angebliche „Nicht-Farben“, in Wahrheit aber beide, wenngleich auf unterschiedliche Weise, bezogen auf Licht und Materie, Summe aller Farben. Kaskaden von Weiß ergießen sich über viele dieser Bilder, lassen an Tränen denken, fließen mitunter auch, sich von der Schwerkraft lösend, von der Erde gen Himmel.
Gero Hellmuth geht, darüber wurde häufig geschrieben, in seiner Kunst vom Informel aus, hat diese Bildsprache aber auf sehr indivi
duelle Weise weiterentwickelt. Dazu gehört auch, dass es gegenständliche Anklänge gibt, selten und eher verhalten, schemenhaft, wie Erinnerungen aus dem Farbnebel auftauchend. Und es gibt Texteinschübe, Buchstaben, Zahlen, Satzfragmente, einzelne Wörter, lateinische, kyrillische und hebräische Schriftzeichen. Als neues und im Bildkontext auffallend fremdes, in seiner geometrischen Prägnanz buchstäblich einschneidendes Motiv begegnet das Kreuz. Man sollte es nicht vorschnell mit seiner religiösen Konnotation erklären wollen, obwohl diese natürlich im Bedeutungsspektrum nicht ausgeklammert werden kann. Gemeint ist aber zunächst das Fadenkreuz, in dessen Zentrum das Leben steht, das in Krieg und Flucht ausgelöscht wird.
Und nahezu allgegenwärtig ist, seit Jahren immer wieder in Hellmuths Bilder anzutreffen, die Zahl „19“, teils kryptisch verborgen, teils offensiv hervortretend, teils monumental und solitär, teils in vielfacher Häufung. Schon früh wurde sie zum festen Bestand von Hellmuths persönlicher Ikonographie, ausgelöst und angeregt durch die tätowierte Nummer auf dem Arm eines KZ-Häftlings, die den Künstler bei der Betrachtung eines Films über Auschwitz zutiefst berührt hat. Inzwischen steht sie für jede Art von Gewalt und Missachtung menschlicher Würde, für Entpersonalisierung, als Symbol für das gnadenlose Anonymisieren menschlicher Schicksale, wenn etwa in nüchterner statistischer Auflistung von den Toten der nicht enden wollenden Kriege und den Ertrunkenen im Mittelmeer die Rede ist – eine Arbeit mit dem Titel „Mittelmeer als Friedhof“ nimmt darauf ausdrücklich Bezug.
Doch die „19“ kann auch für das vergangene Jahrhundert stehen und alles, was es uns gebracht hat: Unsägliches Leid, Kriege, Auschwitz, Stalingrad, dann aber auch Demokratisierung, Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Fall der Mauer, Ende des Kalten Krieges, Europa. Hoffnungen wurden geweckt, die das neue Jahrhundert leider schon wieder infrage gestellt hat und weiter infrage stellt, aber bekanntlich stirbt ja die Hoffnung zuletzt.


III Kinderporträts beschließen den Zyklus. Hellmuth schreibt dazu: „Wir alle kennen die Bilder glücklicher Eltern, die mit Freude erwartungsvoll die Entwicklung des jungen Erdenbürgers verfolgen. Die Medien, wie auch Hilfsorganisationen, zeigen uns Aufnahmen von Kindern, die uns allen bekannt sind. Ihre großen Augen zeigen keine erwartungsvolle Neugier, sie sind leer. Ihre Mine kennt keine Begeisterung, keine Freude, keine erwartungsvolle Zuwendung zur Mutter – sie ist leer. Ihr angeborener Bewegungsdrang, ihr erforschendes Greifen nach all den begreifenswerten Dingen dieser Welt ist erlahmt, ein erwartungsvoller Blick zu einer geliebten Person ist erloschen. Die Kinder, die ich porträtiere, zeigen keine Individualität – allenfalls Ausdruck des Leids und der Hoffnungslosigkeit. Es sind keine bestimmten Kinder – es sind all diejenigen, denen weltweit alle Menschenrechte durch brutale Zerstörungswut zertreten wurden.“
Gero Hellmuth, Jahrgang 1940, hat als „Kriegskind“ Not, Angst und Flucht selbst erlebt, aber auch Durchhaltevermögen und Tatkraft. Diese frühen Erlebnisse haben ihn nachhaltig geprägt. In einem Text von 2015 notiert er rückblickend: „Als die Frage gestellt wurde Wollt ihr den totalen Krieg? war ich drei Jahre alt. Das Ende des fatalen Zweiten Weltkriegs erlebte ich mit der Ahnung, Wachheit und Neugierde des fünfjährigen Kindes.“ Die Flucht vor der russischen Armee brachte ihn, seine Eltern und den älteren Bruder in den Westen. Verwandte nahmen die Familie auf, liebevolle Eltern umhegten ihn. Er wuchs auf dem Lande auf, in Schleswig-Holstein, in der Natur und zusammen mit Tieren, lernte zupacken und machte die Erfahrung, dass nur der etwas erreichen kann, der etwas tut:
„Mit aufopfernder Fürsorge kümmerten meine Eltern sich um mich und meinen Bruder. Ihre Existenzgrundlage war ihnen genommen worden, und aus dem Nichts heraus begannen sie, wie Millionen andere auch, mit dem Aufbau eines neuen Lebens. Die bis heute wirkende Lehre daraus war, und ich erinnere mich mit
Dankbarkeit daran: für eine zufriedenstellende Zukunft wird mir nichts geschenkt. Ich selbst muss die Initiative ergreifen, muss selbst Hand anlegen, um meine Zukunft nach meinen Überzeugungen zu gestalten, soweit dies in meiner Kraft steht. Jener Wunsch Nie wieder Krieg, den ich als Kind in meiner Umgebung so deutlich spürte, war der Wunsch, einen immerwährenden Frieden zu schaffen und zu erhalten, und dieser Wunsch zielte letztendlich auf ein friedlich geeintes Europa“.
Gero Hellmuth hat es nicht bei guten Wünschen belassen. An seiner künstlerischen Arbeit ist nicht nur diese selbst bemerkenswert, sondern auch die Energie, mit der er sich erfolgreich um adäquate Präsentationen bemüht. Dabei geht es ihm weniger darum, seine Werke in möglichst prestigeträchtigen Museen oder Galerien zu zeigen, sondern an Orten und im Rahmen optimaler kulturpolitischer Wirksamkeit. Musikalische Beiträge, darunter speziell themenbezogene Kompositionsaufträge sind dabei für den ausübenden Musiker Hellmuth nicht schmückendes Beiwerk, sondern integrierender Bestandteil der Darbietung. Insbesondere liegt ihm die deutsch-polnische Aussöhnung am Herzen, mehrere deutsch-polnische Projekte, u.a. 2018 eine Ausstellung in Szczecin (Stettin), wären hier zu nennen.
„Die Musik“, schreibt Hellmuth in dem bereits zuvor zitierten Text, „spielte in meinem Leben immer eine wesentliche Rolle; so entstanden die Reihen, ‚Bild und Musik‘. Die Musik war es aber auch, die mich zunächst dem Thema ‚Leid und Verfolgung‘ näherbrachte – ab 1986 entstanden die Gemälde-Zyklen nach den Passionen von J. S. Bach und Mendelssohn-Bartholdy. Es folgte ab 1991 der Hiob-Zyklus. Der eigentliche Auslöser, mich bis heute bildnerisch mit Leid und Verfolgung auseinanderzusetzen, war das Jahr 1995, das im Zeichen des Gedenkens an das Kriegsende vor fünfzig Jahren stand. In jenem Jahr entstand die erste Arbeit einer Werkreihe, die bis heute anhält, das Triptychon „Auschwitz/Befreiung.“