„…dass man mit ihnen redet.“
Gedanken zu den Zeichnungen, Malereien, Objekten und Assemblagen von Gero Hellmuth
I
Nach einer langen, gleichermaßen beklemmend intensiven wie enervierend ereignislosen Performance stellt sich Jochen Gerz der Diskussion. Ein jugendlicher Teilnehmer der gut besuchten Veranstaltung meldet sich und fragt, was denn der Sinn des Ganzen gewesen sei, er habe absolut nichts verstanden. Der Künstler, erschöpft und genervt, entgegnet einigermaßen unwirsch: Was soll die Fragerei? Immer wollt ihr alles verstehen! Habt ihr denn noch immer nicht gemerkt, in welche Sackgassen euch der Drang, alles verstehen zu wollen, letztendlich geführt hat?
Beim Nachdenken über den Einstieg in den vorliegenden Text kam mir dieser lange zurückliegende Performance-Abend in den Sinn – er fand unter meiner Regie 1981 im Heidelberger Kunstverein statt. Rund zwanzig Jahre später stellte Christhard Georg Neubert seinem Vorwort zum Katalog der Ausstellung Gero Hellmuth – Malerei und Assemblagen, die im Frühjahr 2003 in der St. Matthäus-Kirche im Kulturforum Berlin und im Herbst desselben Jahres in der Herz-Jesu-Kirche Singen gezeigt wurde, ein Zitat von Jürgen Rennert voraus. Es lautet: Nicht der Mangel an Verständnis und Verstehen macht uns Menschen zu schaffen, sondern das zu rasche Verstehen.
Die Berliner Ausstellung, die nicht von ungefähr zeitgleich zum dort erstmals stattfindenden Ökumenischen Kirchentag gezeigt wurde, trug, ebenso wie das Katalogbuch, den der Bibel entnommenen Titel „ … dass sie leben“. Sie befasste sich mit Auschwitz und dem biblischen Hiob, mit Dresden und Hiroshima, mithin mit historischen Ereignissen, aber auch existentiellen Grundfragen. Durchweg mit Themen also, bei denen die menschliche Fähigkeit des Verstehens sich schmerzhaft unüberwindbaren Grenzen gegenüber sieht.
Es sind solche Themen, die Gero Hellmuth umtreiben, die ihn zu umfangreichen Werkkomplexen angeregt haben, zu Serien und Zyklen, die aber weder illustrieren noch agitieren, vielmehr absolute, „konkrete“ Kunst sind, wie man sie durchaus auch ohne inhaltliche Bezüge nach rein formalen Gesichtspunkten betrachten und bewerten könnte – zumindest theoretisch, analog etwa zu Beethovens Diktum, das den Vorwurf der „Programmmusik“, den man seiner sechsten Symphonie machte, mit dem Hinweis „Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“ zurückwies.
Bei Gero Hellmuth geht es nicht um Schilderung, sondern um Empfindung, und diese basiert auf realer und konkreter, auch sehr persönlicher, Erfahrung. Inhalt und Form sind in seinem Schaffen nicht von einander zu trennen. Hellmuth betrachtet seine Kunst nicht als etwas vom Weltgeschehen Isoliertes, sondern als Beitrag zu einem die Sphäre der Kunst überschreitenden Diskurs. Dies wird deutlich schon durch die Titel von Werken und Ausstellungen, zudem durch die Wahl des jeweiligen Ortes und Zeitpunktes einer Ausstellung. Die Integration musikalischer und szenischer Aufführungen steht zudem für den interdisziplinären Ansatz des Künstlers. Auch geht es keinesfalls um eine lediglich auf die Vergangenheit bezogene Dokumentation, sondern um die Auseinandersetzung mit konkreter, aktueller oder auch zeitloser Gegenwart und um den Verweis auf eine Zukunft, zu deren Fundament unabdingbar die Vergangenheit gehört, nicht als erzählendes Präteritum, sondern als Perfekt, das bekanntlich grammatisch eine Zeitform der Gegenwart ist: Nichts von dem, was geschehen ist, lässt sich ungeschehen machen, alles bleibt untilgbar Bestand unserer Realität.
Häufig genug wird ja der Wunsch geäußert, man möge doch endlich die Vergangenheit ruhen lassen, man möge schweigen und vergessen. Hellmuths Kunst stemmt sich gegen eine solche Auffassung. Aber vielleicht geht es ja tatsächlich weniger um das Vergessen und Verdrängen als um die weit verbreitete Illusion, längst alles verstanden und somit bewältigt zu haben und daher beruhigt als „erledigt“ abhaken zu können, was geschehen ist und, zugegebenermaßen, nie wieder geschehen darf – besser: dürfte. Denn ein unbefangener Blick auf die Gegenwart lässt Zweifel aufkommen und nicht nur im Blick auf Bereiche außerhalb unserer mitteleuropäischen „Insel der Seligen“ immer wieder die Alarmglocken schrillen. Ob man aber aus der Vergangenheit jemals etwas lernen kann ist ebenso ungewiss wie die Frage, ob Kunst politisch und gesellschaftlich etwas zu bewirken vermag. Gleichwohl: Ohne Wirkung ist sie nachweislich nicht.
Gero Hellmuths Kunst ist Gegenwartskunst. Sie befasst sich mit Aspekten einer Geschichte, die Teil unserer Gegenwart sind, und dies einerseits auf sehr persönliche und damit authentische Weise, andererseits aber als objektive Gestaltung im autonomen Bereich der Kunst und ihrer Eigengesetzlichkeit. Nur so aber kann sie uns erreichen – nicht um sie zu verstehen, sondern um von ihr berührt zu werden. Dabei können sich Wege der Erkenntnis eröffnen, die über das simple und häufig vorschnelle Verstehen hinausweisen.
II
Ich war, durch Texte und Abbildungen vorbereitet, auf harte Kost gefasst. Doch Gero Hellmuth kann auch ganz anders, so dass die erste Begegnung vor Ort sich eher irritierend gestaltete: Das Modell eines Narrenbrunnens begrüßte mich beim Betreten des Singener Ateliers. Habe ich mich in der Adresse geirrt? Narrenfolkore ist ja rund um den Bodensee weit verbreitet. Aber Gero Hellmuth hat mit seinem alter ego keine Probleme: „Ich sehe die Freude der Betrachter. Das gönne ich mir“ verriet er auf eine entsprechende Frage der Berliner Reporterin Gudrun Trautmann. Und dem Kunstlaien wird signalisiert: Er kann’s. Die Beherrschung der für die Realisierung seiner Arbeiten notwendigen Techniken – über das Zeichnen und Malen hinaus sind Zimmern, Schweißen, Sägen und Schleifen für sein Schaffen selbstverständliche Voraussetzungen. Hellmuth ist kein Designer, der nur entwirft und dann anderen die handwerkliche Ausführung überlässt, wie sich beim weiteren Gang durchs Atelier rasch feststellen lässt.
Denn nun wird es ernst: Schon im zweiten Raum eröffnen sich andere, erregende und auch erschreckende, jedenfalls sehr berührende Perspektiven. Da ist ein Künstler, der sich Fragen stellt, im doppelten Sinn des Wortes, und dabei weder sich selbst noch den Betrachter schont, freilich jeden vordergründigen Nervenkitzel meidet. Man schreit nicht auf angesichts dieser Bilder und Objekte, wendet sich nicht angeekelt ab, wird vielmehr still und nachdenklich. Ästhetischer Genuss, das Bewundern der kontrapostischen Harmonie spannungsreicher Kontraste, ist durchaus möglich, mindert aber nicht im entferntesten den Ernst dessen, was da an Inhaltlichem aufscheint. Doch das Kunstwerk bietet keine Antworten auf bohrende Fragen, keine entlastenden Erklärungen, keine Hilfen zum Verständnis, wohl aber die Aufforderung, die eigene Einstellung, das eigene Verhalten zu überprüfen und hinsichtlich möglicher Konsequenzen zu hinterfragen. Kunst, so zeigt sich hier wieder einmal, weist umso mehr über sich selbst hinaus, je konsequenter sie bei sich selbst bleibt, je unbedingter sie ihren eigenen Regeln folgt.
Franz Joseph van der Grinten hat dies, konkret bezogen auf Hellmuths Arbeiten, in einem seiner wunderbaren Texte, geschrieben für den erwähnten Katalog, wie folgt formuliert: „Es sind erzeugte Erschütterungen, aus den eigenen Betroffenheiten in eine autonome Sprache übersetzte. Sie sind kontrolliert. Sie sind bedacht, sie haben vor einem kritischen Blick Gestalt angenommen. Es ist ein klärender Dialog, dessen der Betrachter Zeuge wird. Selbst im Grübeln ist es ein Durchdringen, und selbst durch tiefste Dunkelheiten führt der Gang nicht in ein nebelhaft Unfassbares, sondern was letztlich unfassbar bleibt, gebiert Erkenntnis. Gero Hellmuth weiß, dass Ausdruck durch Form erzeugt werden muss. Das ist es, was Kunst leisten soll und kann. Was darüber ist, wäre vom Bösen.“
Der erste Blick bereits lässt Gemeinsamkeiten zwischen den unterschiedlichen Arbeiten und Werkgruppen, lässt Grundprinzipien von Hellmuths Kunst und „Handschrift“ erkennen: Da ist zunächst sein Arbeiten in Serien. Sowohl formal als auch inhaltlich verlangt das einmal Gefundene nach Fortsetzung, Überprüfung, Weiterführung, Entfaltung, Ergänzung, Erforschung unterschiedlicher Perspektiven. Variationen über ein Thema, Entfaltung seiner Komplexität, Analysieren seiner Eigenschaften, Auskosten der Verschiedenheit im Ähnlichen und der Ähnlichkeit im Verschiedenen – in der Kunst, nicht nur in der „bildenden“, sondern auch in der Musik, ist dies ein geläufiges, ein uraltes Prinzip.
Apropos Musik, und auch dies gehört zu den charakteristischen Eigenheiten dieser Kunst: Die erwähnte Berliner Ausstellung wurde mit der Uraufführung einer Kantate eröffnet, die der jüdische Komponist, Pianist und Dirigent Joseph Dorfman für Gero Hellmuth auf biblische und jiddische Texte geschrieben hatte und die sich nicht nur inhaltlich, sondern auch formal ausdrücklich auf die ausgestellten Arbeiten bezog. Von der Affinität Hellmuths zur Musik aber wird noch an anderer Stelle die Rede sein.
An spezifischen Aspekten wäre des weiteren die unverkennbare Herkunft all dieser Arbeiten vom Informel zu nennen, von der Tradition der gestischen Expression, wie sie in den Fünfziger Jahren entwickelt wurde. Dabei geht es weniger um zwar mitunter vorhandene und dann umso wirkungsvoller eingesetzte kraftvolle Farbakzente als vielmehr um ein eher auf scharfe Kontraste und subtile Übergänge zwischen Hell und Dunkel konzentriertes Arbeiten, was ebenso wie die Dominanz des Linearen darauf verweist, dass Hellmuths eigentliches Metier die Zeichnung ist, die expressive Linie, die sich einerseits zur dunklen Fläche hin verdichten, andererseits sich scheinbar lückenlos in den dreidimensionalen Raum hinaus entfalten kann.
Nicht von ungefähr sind nahezu alle bedeutenden Bildhauer auch exzellente Zeichner, nicht aber unbedingt kongeniale Maler. Die Zeichnung arbeitet wie die Bildhauerei mit Abgrenzungen, mit Linien, Konturen, Überlagerungen, Verdichtungen, Einschnitten, mit Licht und Schatten und nähert sich so dem dreidimensionalen, dem räumlich-plastischen, skulpturalen Bereich, wie dies vor allem im Hinblick auf drucktechnische Verfahren erkennbar wird: Hochdruck, Tiefdruck, Materialdruck – all dies sind letztlich dreidimensionale Techniken – bezeichnenderweise sprechen wir im graphischen Metier auch von „Rissen“ oder „Stichen“. Gero Hellmuth verfügt seit seiner Studienzeit über einschlägige Erfahrungen auf diesem Gebiet. Eine Werkgruppe von Metallarbeiten trägt denn auch den Titel „Linie im Raum“ (1993).
Malerische Wirkungen entstehen in Hellmuths Arbeiten nicht allein durch die Verdichtung des Zeichnerischen zu flächig-scheinräumlichen Schraffuren und Texturen, sondern auch durch den Einsatz verschiedenster Materialien, wobei die Verbindung von Bildträger, Farbmaterie und applizierten Elementen – vor allem Holz und Metall – sich ebenso lückenlos zu einem Ganzen fügt wie der Übergang zwischen der imaginären Räumlichkeit der Malerei zur Ausweitung des Bildes in den realen Raum. Mit Vorliebe verwendet Hellmuth, wie die Meister des Mittelalters, Holz als Bildträger, kann er doch auf diesem, anders als auf der Leinwand, unschwer auch dreidimensionale Materialelemente an- und aufbringen.
Eine weitere Grenzüberschreitung wäre abschließend zu erwähnen: Zeichnen hat mit „Zeichen“ zu tun, mit Schrift, deren Ursprung ja bekanntlich in Bildern liegt, die den bezeichneten Gegenstand zu genormten Signets verdichten. Diese Verwandtschaft erlaubt es dem Künstler – wie es in Ostasien seit Jahrhunderten Tradition ist – Geschriebenes nahtlos in ein Bild, nachdem dieses heute nicht mehr dem Renaissance-Ideal der Mimesis verpflichtet ist, zu integrieren, was dem Werk zusätzliche formale wie inhaltliche Ausdrucksmöglichkeiten eröffnet. Hier sind u.a. Arbeiten zu nennen, in die Hellmuth im erweiterten Sinn einer Collage Zahlen oder auch Textfragmente integriert hat wie in etlichen Bildern der Serie „…dass sie leben“, in denen das titelgebende Bibelzitat in verschiedensten Sprachen und Typografien zu einer komplexen Bildtextur verwoben wird (2000) oder auch in Bildern zu Gedichten von Hilde Domin wie etwa „Augen“, ein komplexes Materialbild mit auf Holz montierten Elementen aus Eisen und Schnur und dem gut lesbar eingearbeiteten Text „Kriege werden mit Menschen geführt. Sie sehen mich an. Kein Himmel hat die Blässe klagender Augen“ (2006).
Ein Gedicht von Hilde Domin ist auch der Ausgangspunkt der Arbeit „Abel steh auf“ – eines höchst dynamischen Acryl-Gemäldes, das von feinsten linearen Strukturen bis zu subtilen Verwischungen im Rahmen einer ebenso dramatisch kontrastreichen wie beinahe minimalistisch reduzierten Skala von braunen und blaugrauen, vor allem aber weißen Tönen ein breites Spektrum grafisch-malerischer Gestaltungsmöglichkeiten ausschöpft. In diesem 2007 entstandenen Bild spielt die Zahl „19“ formal und inhaltlich eine wesentliche Rolle. Diese magisch anmutende Zahl, schablonenartig stilisiert, tritt in zahlreichen Bildern teils versteckt, teils offensichtlich, mitunter monumental oder auch gehäuft auf.
Gero Hellmuth hat sie einem Dokumentarfilm über das Lager Auschwitz entnommen und zum Leitmotiv seines Auschwitz-Zyklus gemacht, der die Jahre 1995 bis 2003 umfasst, verwendet sie aber auch später noch häufig, wie im genannten Beispiel. Sie erinnert an die tätowierten Nummern der KZ-Häftlinge, die nur noch als Zahlen registriert wurden, nachdem man sie ihrer Individualität und Würde beraubt hatte. Immer wieder begegnet diese Zahl, im Bild „Hügel der Trauer“ häufen sich die Ziffern wie ein Berg von Knochen. Doch die magische Zahl ist nicht nur Erinnerung an die Vernichtungslager. Sie ist zugleich die Chiffre des vergangenen Jahrhunderts und wird als solche dem Betrachter eingehämmert, geradezu schmerzhaft eingebrannt. Was hat uns dieses Jahrhundert alles gebracht an Schmerz und Katastrophen, an Schuld und Verzweiflung, aber schließlich doch auch an Befreiung, Einsicht, Vergebung und Frieden.
Schon früher hat Gero Hellmuth häufig Zahlen in seine Bilder eingefügt, so etwa bei Arbeiten, die
das Geschehen an der Berliner Mauer reflektieren – die Zahl 190 gibt die Zahl der Todesopfer an, die bei der Flucht in den Westen umkamen, aber es geht dabei noch um mehr: Um Mauern generell, die längst bevor sie in Beton und Stein gebaut werden, bereits in den Köpfen existieren und jeden Dialog unmöglich machen. Dem Dialog- Thema aber war Hellmuths jüngste Ausstellung gewidmet, die zum 70. Jahrestag des Kriegsendes 1945 im Mai 2015 in der Parlamentarischen Gesellschaft in Berlin mit einem Kammerspiel in Form eines deutsch-polnischen Dialogs zum Thema „Vertreibung“ eröffnet wurde und im Oktober in Hellmuths Heimatstadt Singen zu sehen sein wird. Sie trägt den Titel „ … dass man mit ihnen redet“ und behandelt u.a. das Thema der Vertreibung unter den Aspekten von Vergebung und Versöhnung.
Als weiteres Beispiel sei noch auf ein Bild mit dem kryptischen Titel „Hindernis 173“ verwiesen: Der Titel verweist auf eine Markierung auf polnischen Seekarten: Hier liegt bis heute die untergegangene „Wilhelm Gustlow“, in der bei der Flucht über die Ostsee bei -20° C von 10 000 Flüchtlingen 9 000 umkamen. Ein Bild, das in jüngster Zeit wieder eine erschütternde Aktualität gewonnen hat.
Für all dies gibt es Vorbilder, Bezüge und Anregungen. Die Überschreitung der Gattungsgrenzen, „der Aussteig aus dem Bild“, das Einbringen von Objekt-Elementen und Fundstücken, insbesondere auch von Zahlen und Schrift – all dies war bereits ein wichtiges Thema bei den Kubisten und Dadaisten, bei Picasso, Braque und Schwitters und auch bei den „klassischen“ Informellen – man denke nur an Tapies, Dahmen oder Hoehme – der 50er Jahre. Die Art aber, wie Gero Hellmuth mit diesen gestalterischen Möglichkeiten umgeht, insbesondere auch im inhaltlichen Kontext, ist durchaus eigenständig. Es ist heute schlechterdings nicht mehr möglich, in der Kunst etwas völlig neu zu erfinden. Aber darum kann es auch längst nicht mehr gehen. Wohl aber darum, was ein Künstler an Eigenem aus der Fülle der vorgegebenen Möglichkeiten entwickelt.
Zu vielen Bildern von Gero Hellmuth gibt es Geschichten. Sie lassen sich zwar nicht unbedingt unmittelbar ablesen, und zweifellos ist jede Arbeit auch für den unmittelbaren Zugang sowie eigene Assoziationen und Interpretationen offen, aber – ähnlich wie bei der Ikonographie älterer Malerei, die freilich nicht wie bei zeitgenössischer Kunst „privat“ im Sinne von Harry Szeemanns „Privaten Mythologien“ war, sondern allgemein verbindlich und zumindest den Gebildeten ihrer Zeit bekannt – eröffnet die Kenntnis der zugrundliegenden Geschehen dem Betrachter weitere, zusätzliche Erfahrungshorizonte, zu deren Erschließung oftmals ein Hinweis durch den Titel gegeben wird. Darüber hinaus verschafft der konkrete inhaltliche Ausgangspunkt dem Werk Intensität und Authentizität.
III
Gero Hellmuths Ausstellungen und Kataloge sind zumeist nicht chronologisch, sondern eher thematisch geordnet. Es scheint, als interessiere ihn die Logik der Werkentwicklung nicht besonders, sondern viel mehr die Stringenz und Konsequenz der Beschäftigung mit Inhalten. Gleichwohl sei den bisherigen Erörterungen ein zusammenfassender chronologischer Anhang angefügt:
Gero Hellmuth wurde 1940 in Neustrelitz in Mecklenburg geboren. Kriegserlebnis und Flucht prägten seine Kindheit. Sein Abitur hat Hellmuth in Stuttgart bestanden und von 1965-69 bei den Professoren Klaus Arnold, Peter Dreher und Gottfried Meyer an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe studiert, bei renommierten Künstlern also, die auch hervorragende Lehrer waren. Hellmuth studierte außerdem Kunstwissenschaft und Philosophie in Freiburg, Karlsruhe und Stuttgart. Er lebt und arbeitet seit 1971 in Singen am Hohentwiel und war dort auch am Gymnasium als Kunsterzieher tätig. Hellmuth erhielt diverse Preise, war in zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland beteiligt, hatte Einzelausstellungen vor allem im Bodenseeraum, aber auch in Berlin, München und Tübingen, wo er mit Komponisten wie Peter Hoch und Joseph Dorfman zusammenarbeitete.
Von Anfang an, es war schon die Rede davon, gehörten für ihn Musik und Bildende Kunst zusammen. Hellmuth spielt Bratsche in einem Streichquartett, und er hat zahlreiche Bilder zu Musikstücken geschaffen, so u.a. einen Zyklus zur Matthäuspassion und Arbeiten zu Paul Hindemiths 1936 entstandener Trauermusik für Bratsche und Streichorchester. Angefangen hat er mit Zeichnungen, hinzu kam das Experimentieren mit graphischen Techniken sowie das Interesse an Gefundenem, etwa – ein Schlüsselerlebnis – einem von einem Traktor überfahrenen Kartoffeldrahtkorb, dessen aus der Zerstörung erstandene neue Form ihn zur Umsetzung in Malerei inspirierte.
Später hat er solche Fundstücke dann realiter in seine Arbeiten eingefügt oder auch zum Ausgangspunkt und Gegenstand künstlerischer Installationen gemacht – so etwa in neueren Arbeiten wie „Dialog – C“, einem Objekt von 2012, das aus einem auf ein Holzbrett montierten rostigen Eisenband und einem verschlungenen Seil besteht – zwei recht ungleichen Dialogpartnern, die gleichwohl zusammen eine spannende Figuration ergeben. Die Botschaft: Nur Verschiedenheit garantiert einen spannenden Dialog. Oder der „Türklopfer“: Er besteht aus einem gefundenen alten Brett mit verwittertem Namensschild und eisernem Klopfer. Lohnt es sich, hier anzuklopfen? „Ja“, beantwortet der Künstler die selbstgestellte Frage: „Es lohnt sich – denn der Dialogpartner ist ein Mensch“.
Zurück zum chronologischen Überblick: Malereien der 80er Jahre – so z.B. der Zyklus der vier Elemente – zeigen, ganz in der Tradition des Informel, athmosphärisch duftige Bewegungsspuren, aus gestischem Linienschwung kraftvoll entwickelt, als transitorisches Ereignis in hellen, sparsam gesetzten Farben – lichtes Grau und Elfenbein dominieren – wie in einer Momentaufnahme im leeren Raum der Bildfläche festgehalten. Ein Bild, zwei Bewegungsbögen gegeneinander setzend, der eine dunkel, der andere hell, sich im imaginären Raum der Bildfläche berührend und zum vielfarbigen Grau vermischend, Ausschnitt aus einem nur ahnbaren größeren Verlauf, trägt den Titel „Solo für Bratsche“ (1989).
1992 erfolgt dann der bereits erwähnte „Ausstieg aus dem Bild“ bzw. die Erweiterung desselben in die dritte Dimension – so im Zyklus der „Rhythmen“, bei denen es sich um Tondi, Kreisbilder, handelt, aus deren malerischem Grund sich metallische Segmente, Fragmente, Fraktale, Kraftlinien aus Materie und Energie in sperrigem Schwung lösen, dynamisch vom Raum außerhalb des Bildes Besitz ergreifen und doch ihrem Ursprung verhaftet bleiben – Kosmisches klingt an, Kosmonautisches, Astronautik, Grenzüberschreitung, aber auch deren Begrenzung.
1993 entstehen die bereits erwähnten Zeichnungen im Raum, Gebilde zwischen Gerät und Gestalt, Design und Expression. 1994 tritt das Malerische zurück, vorübergehend zumindest, doch ganz entsagt ihm Hellmuth nicht, immer wieder kommt er auf diese Grundlage zurück. Zeitweise freilich beherrscht das Metall die Szene – Eisen auf Holz, blankes Metall auf metallisch grauem Grund mit verhaltenen Farbnuancierungen lässt, dynamisch rotierend zwischen Sich Lösen und Sich Verdichten, zentrifugale und zentripetale Bilder von Ursprung, Ende und Übergang entstehen.
1995 dann der eindrucksvolle Hiob-Zyklus: Arbeiten aus Eisen auf Holz, deren Rezeption nicht notwendig dem Text folgen muss, der Anregung und Ausgangspunkt der Arbeit war, der aber gleichwohl, folgt man der Spur, die durch die Bildtitel gelegt wird, ein Spannungsfeld eröffnet zwischen der Autonomie der Bilder und der Zumutung des Textes mit seiner elementaren und existentiellen Theodizee-Thematik. In all diesen Bildreliefs kommt es zwischen vergleichsweise ruhigen Flächen zu emotionalen Eruptionen, gleichsam geologischen Verwerfungen und heftigen Konfrontationen von Tag und Nacht, Hell und Dunkel, Innen und Außen, Diesseits und Jenseits.
Ein Schlüsselwerk dieses Jahres ist zweifellos das große Triptychon „Auschwitz / Befreiung“. Die drei Tafeln aus Holz sind wie die eines spätgotischen Flügelaltars durch Scharniere miteinander verbunden, doch ist an die Stelle hieratischer Statik ein labiles Gleichgewicht getreten. Dynamische Linien aus Eisen verbinden die sehr unterschiedlichen Teile, führen – in Leserichtung von links nach rechts – vom Licht über den Einbruch dämonischen Dunkels, über Zerstörung und Chaos erneut zur Helle. Doch was sich unter dieser verbirgt, ist nicht präzise auszumachen. Sind es wirklich nur die Schatten der Vergangenheit? Ist wirklich endgültig überwunden, was vergangen ist? Die Mitteltafel erinnert an eine Tür – Symbol der Öffnung, aber auch des Verschließens. Vieles bleibt offen, stellt Fragen an den Betrachter.
„Zeitzeuge / Brücke in die Zukunft“ lautet der Titel einer anderen Arbeit, ebenfalls aus dem Jahr 1995. Sie besteht aus einem „Objet trouvé“, einer Schiffsplanke, die einen Untergang überlebt hat – auch dies bis hin zum Titel ein ungewollt aktuelles Motiv, eine fast erschreckend prophetische Arbeit. Wie von einem Schatten wird die Planke von einer Stele hinterfangen, aus deren Dunkel die 19er-Ziffern gleichsam heruntertriefen und sich im Nirgendwo verflüchtigen.
1999 entsteht das monumentale, feierliche Triptychon „…dass sie leben …“. Es wird vorbereitet durch Arbeiten zum gleichnamigen Thema, die formal unmittelbar an den Hiob-Zyklus anknüpfen. Das „Retabel“ steht wie eine aufgerichtete Engel-Figur vor dem Betrachter, konfrontiert ihn mit blankem Metall und wuchtigem Holz, mit organischer und anorganischer Materie, mit Natur und Technik. Großflächige, distanzierende Gelassenheit und zuckende Emotion vereinen sich mit dem Menetekel der Schrift zu einem bewegenden, zum Innehalten, Einlenken und Nachdenken anregenden Zeichen.
Hellmuths Arbeiten sind ebenso zeitlos wie – mitunter erschreckend – aktuell. Dunkel ist in ihnen, die Mahnung, nicht zu vergessen, die schonungslose Konfrontation mit Elend und Angst, aber auch Poesie und Schönheit. Doch nie sind sie Manifeste der Resignation, sondern immer energiegeladene Zeichen der Hoffnung. Sich mit ihnen intensiv zu beschäftigen in einer Situation, in der sich die Anzeichen mehren für einen fatalen Weg zurück in den überwunden geglaubten Kalten Krieg und das nur allzu gut bekannte unselige Wechselspiel von Mißtrauen, Drohung und Vergeltung, könnte das Gebot der Stunde sein. Haben wir nichts verstanden oder meinten wir nur, allzu vorschnell, alles verstanden zu haben? Auf jeden Fall brauchen wir Künstler wie Gero Hellmuth und eine Kunst wie diese.
Heidelberg, im Juni 2015
Hans Gercke
Kunstkritiker, Feuilletonredakteur, Honorarprofessor an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, bis 2006 Direktor des Heidelberger Kunstvereins.