Bogdan Twardochleb, Stettin/Szczecin – Polen
Türen öffnen
(Über die Kunst Gero Hellmuths)
Gero Hellmuths Ausstellung „Hiob“ ist in Deutschland bereits
mehrfach gezeigt worden. Vor zwei Jahren sah man sie zum ers-
ten Mal auf polnischem Boden, im Neubau der Stettiner Philhar –
monie, an eben der Stelle, wo zuvor die nach dem Krieg abgeris-
sene Deutsche Philharmonie gestanden hatte. Begleitet wurde
die Ausstellung von dem Bilderzyklus „Kriegskinder“.
Das Museum des Zweiten Weltkrieges ist nun der zweite Ort in
Polen, wo diese Ausstellung zu sehen ist. Sie entstand aus ei-
nem polnisch-deutschen Projekt, das 2015 zum 70. Jahrestag
des Kriegsendes von Gero Hellmuth unter dem Titel „… dass
man mit ihnen redet“ in der Deutschen Parlamentarischen Ge-
sellschaft in Berlin eröffnet worden war. In Danzig, dem Ort, von
dem der Krieg seinen Ausgang nahm, begleitet es nun das Ge-
denken an dessen Ende vor 77 Jahren.
Zu der „Hiob“-Ausstellung gesellen sich die Musik Michał Dobr-
zyńskis und die Geigenimprovisationen Ewa Gruszka-Dobrzyńs-
kas hinzu. Gero Hellmuth, der in diesem Jahr seinen 80. Geburts-
tag gefeiert hat, zählt vierzig Jahre mehr als die beiden. Seine
Idee einer Zusammenarbeit umriß er mit dem Motto: „Aufein-
ander zugehen.“
Flucht und Akademie
Gero Hellmuth lebt in der kleinen Stadt Singen (Baden-Württem-
berg) nahe der deutsch-schweizerischen Grenze. Er stammt aus
dem hohen Norden Deutschlands, der Fürstenstadt Neustrelitz
in Mecklenburg.
Bei Kriegsende fünfjährig, war er gezwungen, aus Elternhaus
und -stadt zu fliehen. Der Krieg nahm Rache an dem Staat, der
ihn entfacht hatte und führte zu einer damals ungekannten
Grausamkeit. Als er zu Ende ging, zahlten die Einwohner dieses
Staates kollektiv die Rechnung, unabhängig von ihrer individu-
ellen Schuld. Ihre ganze Schuld bestand darin, Deutsche zu sein.
Menschen zahlten Menschen Jahre von Erniedrigung und Tod
heim. Staaten schotteten ihre Grenzen ab, Türen wurden verrie-
gelt. Nachbarn wurden einander zur Bedrohung.
Nach seiner Flucht aus Neustrelitz ließ sich Gero Hellmuth in
Eckernförde an der Ostsee nieder. Das Abitur legte er in Stutt-
gart ab, und seit 1971 wohnt er in Singen. Er studierte an der
Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe, einer Ausbildungs-
stätte, die in der Entwicklung des künstlerischen Lebens in
Deutschland der Nachkriegszeit eine bedeutende Rolle spielte.
Dort machte er seinen Abschluß, zusätzlich in Philosophie und
Kunstgeschichte.
Zu seinen Professoren zählte Klaus Arnold, ein Maler und Bildhau-
er, Expressionist, Mitbegründer der neuen Gegenständlichkeit in
der Malerei, Musikliebhaber, ein Mann, der bereits in den 50-er
Jahren von der kommenden Einheit Europas überzeugt war. In
der Mannheimer Philippuskirche finden sich zwei Reliefs aus sei-
ner Hand, versehen mit Zitaten aus dem Johannesevangelium.
Im Kircheninneren, in der Nähe des Haupteingangs, ist das erste
zu sehen: „Herr, zeige uns den Vater“ (Joh 14,8), das zweite beim
Altar: „Wer mich sieht, der sieht den Vater“ (Joh 14,9). Im ersten
artikuliert sich der Zweifel, im anderen die Hoffnung .
Eben diese beiden Gefühle sind es, die auch im Schicksal Hiobs
miteinander ringen – dieser Metapher für das Los des Menschen.
Ein weiterer Lehrer Gero Hellmuths war der Maler und Bild-
hauer Peter Dreher, ein Vertreter des Neorealismus. Viele seiner
Arbeiten zeichnet eine besondere Aufmerksamkeit für kleine
Dinge und Wesen aus. Er schuf kleinformatige Bilder, Porträts
in Öl sowie auch Hinterglasmalereien, von denen er Dutzende
hinterlassen hat. Er malte Landschaften, bunte Blumen und
schwarz-weiß gehaltene Darstellungen von Totenschädeln, die
an stumme Bilder von Massengräbern gemahnen. Er ist Urheber
von figurativen Kompositionen in vielerlei Formaten und von
Reliefs in Kirchen. Seine Kunst verstand er stets in Verbindung
zur Moralität, zum gesellschaftlichen Leben, zur Politik.23
Eingetaucht ins Schicksal der Welt
In Gero Hellmuths Arbeiten werden Gemeinschaft und Charak-
ter seiner Ausbildungsstätte sichtbar. Kunstkritiker bemerken
auch seine künstlerische Nähe zu Vertretern der Avantgarde des
20. Jahrhunderts wie K. R. H. Sonderborg mit seiner expressiven
Abstraktion oder Karl Fred Dahmen mit seinen aus Holz und
Metall komponierten Bildern. Was diese beiden einte, war die
zentrale Erfahrung des Krieges als totale Zerstörung und Wie-
deraufbau.
Dasselbe ließe sich von der Kunst Anselm Kiefers, Detlef Kappe-
lers oder Günther Ueckers sagen, der damals erst zwanzig Jahre
zählte. Es sei darauf hingewiesen, daß dessen „Buch Hiob“ in Kür –
ze in Stettin zu sehen sein wird.
Gero Hellmuths Werk ist stark mit dem gesellschaftlichen und
politischen Alltagsgeschehen verwoben, wie es für die Bildende
Kunst der letzten Jahrzehnte ja kennzeichnend ist. Die Kunst-
schaffenden wirken am gesellschaftlichen und politischen Le-
ben mit, indem sie den öffentlichen Raum mit der Eindringlich-
keit symbolischer Handlungen und Bedeutungen sättigen.
Gero Hellmuth ist Schöpfer räumlicher Kompositionen wie des
„Kreuzes der Arbeitslosen“, das – von Fall zu Fall – vor Betrieben
aufgestellt wird, deren Mitarbeitern der Fall in die Arbeitslosig-
keit droht. In seinen jüngsten Arbeiten wird das gegenwärtige
Drama von Migration und Flüchtlingsschicksal reflektiert.
Seit vielen Jahren arbeitet der Künstler mit dem Singener Kar-
nevalsverein (Fasnachtsverein) zusammen. Jedes Jahr entwirft
er für die jährlichen Feierlichkeiten Originalportraits, Wandma-
lereien, Karikaturen, Wand- und Deckenfresken, mit größter
Sorgfalt ausgeführt, lebhaft, doch zugleich auch melancholisch.
In einem Jahr malte er neun Wochen lang an einem Fresko im
Gewölbe eines Gebäudes, wie ein Meister der Renaisscance auf
einem hohen Gerüst unter der Decke liegend.
Vergessen wir nicht: Der wirkliche Karneval ist kein Vergnügen
um seiner selbst willen, sondern ein Kampf des Zeitlichen mit
dem Ewigen, des Lebens mit der Vergänglichkeit. Er erinnert
an die Fragen, auf die der Mensch niemals eine Antwortfindet.
Dieses Ausbleiben einer Antwort verhüllt er mit Tanz und plebe –
jischem Spektakel.
Durch eine Fügung des Schicksals brach die Corona-Pandemie
in diesem Jahr just während des Karnevals an der Schwelle zur
Fastenzeit aus.
Gero Hellmuth greift weit in die historischen und kulturellen
Kontexte der Gegenwart aus. In den „Hiob“-Zyklen vergegen-
wärtigt er jahrhundertealte Probleme und Archetypen mit strikt
künstlerischen Mitteln – Farbe, Konstruktion des Raums, Raum-
tiefe, Materialauswahl.
Aus seinem Schaffen läßt sich die Überzeugung herauslesen,
daß der moderne Mensch in das äonenalte Schicksal der Welt
eingetaucht ist. Gerade dadurch baut er Brücken zwischen der
Geschichte, unserer heutigen Zeit und der Zukunft.
Die Individualität des Leidens. Der Raum zwischen den Fragen
Wohl eben deshalb ist ihm das Buch Hiob so wichtig – dieses
Drama von Leid und Hoffnung, das Theologen, Philosophen und
Künstler unablässig beschäftigt. Die Zweifel Hiobs bilden sich in
unserer Kultur in den Erfahrungen jedes einzelnen Menschen
ab, denn das Leiden ist ja letztlich immer individuell. Nur ver-
muten läßt sich, daß das Los des Menschen zugleich auch die
Erfahrung Gottes widerspiegelt, der uns nach seinem Bild und
Gleichnis erschuf (Gen. 1,26).
Das Leid resultiert aus der Natur des Lebens selbst – vom Schmerz
der Geburt bis zu dem des Todes. Revoltiert der Mensch auch
dagegen, so wie er es seit Urzeiten tut, muß er ein solches Leid
doch annehmen, trotz der medizinischen Palliativa, die er als Er-
leichterung zu Hilfe nimmt. Auf die Frage nach dem Grund für
dieses Leiden bleibt die Antwort aus.24
Es gibt daneben aber auch das Leid, das der Mensch dem Men-
schen zufügt, in der Anmaßung, über Schmerz und Tod anderer
zu entscheiden. Übervoll von solchem Schmerz waren die Jahre
des Zweiten Weltkrieges. Denken wir an sie, kehren die Fragen
Hiobs zu uns zurück. So wie Christus am Kreuz sprach: „Mein
Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46; Mk
15,34)
Einige Interpreten der Hiobsgeschichte meinen, sein Leiden
habe ihn edler werden lassen. Der Krakauer Priester und Philo-
soph Prof. Józef Tischner äußerte gegen Ende seines Lebens, auf
das Buch Hiob Bezug nehmend, sein berühmtes Diktum: „Leiden
adelt nicht.“ Der Ethiker Prof. Tadeusz Gadacz schreibt in seinen
Abhandlungen über Hiob, daß das Leiden nicht aus Schuld ent-
steht. Was also dann?
Ziehen wir noch die Meinung eines Jesuiten heran, Prof. Fried-
helm Mennekes, der in seinem Kommentar zu Gero Hellmuths
beiden „Hiob“-Zyklen schrieb, „sie helfen, Fragen zu stellen, ohne
sie zu formulieren“, und der Sinn solcher Fragen „bestehe oft …
gerade in den Räumen des Schweigens und in den Momenten
zwischen den Fragen“.
Das trifft durchaus zu, soweit wir die Theologie des Leidens im
Blick haben. Es heißt aber nicht, daß wir hier, auf der Erde, den
Verursachern des Leides Fragen ersparen oder einen Raum des
Schweigens über sie ausbreiten dürfen.
Der Mensch dem Menschen
Gero Hellmuth rührt an die schmerzvollsten Probleme der
Menschheitsgeschichte. Zu seinen Arbeiten gehört der Zyklus
„Auschwitz“, inspiriert von einem Dokumentarfilm, der die In-
sassen eines Lagers am Tag ihrer Befreiung zeigt. Auf dem Arm
eines von ihnen erblickte der Künstler die eintätowierteZiffer
19… Diese Zahl wurde ihm zum Symbol des Zwanzigsten Jahr-
hunderts.
Ein Teil des „Auschwitz-Zyklus“ ist das Triptychon „Auschwitz/
Befreiung 1945“, das in seiner formalen Gestaltung dem Kreuz
nachempfunden ist. Bei der Ausstellung in Berlin war es auf dem
Altar in der bekannten St. Matthäus-Kirche postiert. Es entstand
als Erinnerung an den 50. Jahrestag der Befreiung von Ausch-
witz und des Kriegsendes. Die Jahrestage dieser Ereignisse sind
für Gero Hellmuth Stationen einer geistigen Pilgerreise.
Die Aufstellung des Triptychons auf den Altar kommt einer sym-
bolischen Identifikation der Opfer von Auschwitz mit der Kreu-
zigungsgeschichte Christi gleich. Die Menschen, die dort über
Leid und Tod anderer entschieden, handelten in Anmaßung
göttlicher Macht.
Der linke Flügel des Triptychons stellt symbolisch die Vernich-
tung dar, die Mitte den Kreuzesbaum, und die rechte Seite – na-
türlich – das neue Leben. Somit umspannt das Triptychon den
Übergang von der Finsternis des Krieges zum Licht der Zukunft.
Der jüdische Komponist Joseph Dorfman schrieb zu „Auschwitz“
eine Kantate mit dem Titel „…daß sie leben“. Für dieses Werk
wählte er Fragmente aus dem Buch Hiob und aus dem Werk
„Das Lied vom ausgerotteten jüdischen Volk“ Jitzhak Katzenel-
sons aus, eines Helden des Warschauer Ghettos, der zusammen
mit seinem Sohn in Auschwitz ermordet wurde. Seine Frau und
zwei jüngere Söhne kamen in Treblinka um.
Viele Menschen haben die Frage gestellt und stellen sie noch
immer: Warum ließ Gott Auschwitz zu? Warum erlaubte er, daß
es zu der Kreuzigung kam? In gewisser Weise hat die polnische
Schriftstellerin Zofia Narkowska im Jahr 1946 die Antwort darauf
gegeben, als sie über einen Band mit Erzählungen über die Zeit
der Okkupation das Motto stellte: „Der Mensch hat dem Men-
schen dieses Los bereitetDie Fragen nach der Kreuzigung, nach
Auschwitz sind Fragen nach der Natur des Menschen, danach,
was dieses Etwas in uns ist, das uns fähig macht, andere zu ver-
nichten.25
An die Türe klopfen
Den Prolog zu der Ausstellung bildet die Skulptur „Der Fund“, ein
metallener Türklopfer, geborgen aus der Türe eines Hauses, das
in der Zeit des Krieges seine Bewohner verloren hatte. Tagtäglich
dient der Klopfer dem Zweck, daß sich hörbar machen kann, wer
in das Haus eintreten möchte. Auf der anderen Seite braucht es
wiederum einen anderen, der bereit ist, die Türe zu öffnen. Wenn
nun zwischen den Menschen auf beiden Seiten der Tür Vertrau-
en ist, wird sie geöffnet. Im Jahr 1945 wurde die Türe zwischen
Polen und Deutschen zugeschlagen. Seit vielen Jahren ist das
wieder anders. Es muß nicht immer so sein.
2015 schrieb Gero Hellmuth: „Der Türklopfer weist auf den un-
schätzbaren Wert des Vertrauens hin, das (…), einer unseligen
Vergangenheit zum Trotz, im Lauf der letzten siebzig Jahre zwi-
schen unseren Völkern gewachsen ist. Viele Male begann das
damit, daß jemand an eines anderen Tür geklopft hat.“
Dieses Vertrauen muß auf vielerlei Arten erneuert werden, und
sei es nur, damit künftig Generationen es für sich überprüfen.
Ein Irrtum wäre es aber zu glauben, seine Dauerhaftigkeit ließe
sich per Dekret bestimmen. An die Türe muß von beiden Sei-
ten geklopft werden. Eines nämlich ist offensichtlich: Polen und
Deutsche wissen zu wenig voneinander. Genau deshalb sind In-
itiativen wie „Hiob“ von Gero Hellmuth so wertvoll.
Sie sind umso unentbehrlicher, als neue Generationen in das ak-
tive öffentliche Leben hineinwachsen. Der Zweite Weltkrieg rückt
unvermeidlich immer mehr in zeitliche Ferne. Das ist gut und na-
türlich, doch auch bedrohlich in dem Sinne, daß es uns noch nicht
gelungen ist, wirksame Schutzmechanismen dem Krieg gegen-
über aufzubauen. Indessen gestaltet sich die Welt, die wir kom-
menden Generationen übergeben, gewaltsam um, schlägt zu mit
Klimavernichtung, Dürren, dramatischen Migrationsbewegungen,
Fundamentalismus, Kriegen in vielen Ländern dieser Welt, mit dem
Leiden von Kindern, Xenophobie, Populismus, Nationalismus und
Radikalismus, mit der Pandemie einer neuen Krankheit. So bleibt
das Buch Hiob ein ganz und gar gegenwärtiges Drama.
Die Furcht der Kinder
Der Ausstellung, die in Stettin gezeigt wurde, hat Gero Hellmuth
einen erschütternden Zyklus beigefügt: „Kinder. Opfer des Krie-
ges zwischen den Grenzen“. Im Katalog schrieb er: „Diese Kin-
deraugen (…) stellen stumme, bohrende Fragen: Was haben
wir euch getan? Was treibt euch an, uns den Frieden zu rauben,
das Gefühl der Sicherheit, die Liebe, die Arme unserer Eltern um
uns…“ Im vergangenen Jahr zeigte der Künstler in Hilzingen den
Zyklus „Schrei der Kriegskinder“, der unter dem Eindruck des Zu-
stroms einer Welle von Flüchtlingen nach Europa entstand.
Erinnern wir uns: 1945 war Gero Hellmuth fünf Jahre alt. Er muß-
te aus dem elterlichen Haus fliehen. Wie die Kinder aller Kriege
hat er die kindliche, diese allerentsetzlichste Furcht kennenge-
lernt.
Der fast gleichaltrige Detlef Kappeler, 1938 in Stettin geboren,
floh mit seiner Familie aus dem Haus, unmittelbar vor der Front.
Die zu Ruinen zerschossene Stadt brannte, Jagdflieger griffen
die Fliehenden an. Viele Jahre später malte er das großformatige
Bild „Stettin – Gedanken“. In die Mitte des Bildes stellte er eine
aufgeschlitzte, blutende Säule, die an das von Blut überströmte
Kreuzesholz gemahnt.
Der verstrickte Mensch
Mit den Reliefs und Gemälden Gero Hellmuths muß man schwei-
gend reden. Ihre Sprache ist die Symbolik der einfachen Linie,
die im horizontalen Raum die historische Zeit, im vertikalen die
Welt der Werte aufruft. Wir leben an dem Ort, wo beide Linien
sich kreuzen: Die Tragik des Lebens ist uns aufgegeben. Was wir
immerhin tun können, ist, sie nicht noch weiter zu vermehren:
Indem wir zwischen uns Verbindungenschaffen statt Gräben.
Der Bogen in den Arbeiten des Künstlers symbolisiert die Idee
einer Brücke über Zeit, Grenzen und Ängste hinweg, ähnlich wie
der „Große Bogen“ Bernhard Heiligers, die Skulptur dieses gebo-
renen Stettiners, die in ebendieser Stadt aufgestellt ist. Die Re-
liefs kennzeichnet der gewaltvolle Streit zwischen dem Dauer-26
haften, Eisernen und dem Flüchtigen und Schwachen, zwischen
dem, was an der Oberfläche, und dem, was in der Tiefe liegt.
Diese Reliefs beziehen sich auf tiefe Schichten unserer Kultur
und unserer Psyche, wo Zweifel und Hoffnung aufeinanderpral-
len, Unbewußtes auf Bewußtes, und das Leiden als immanentes
Merkmal unserer Existenz (bzw. des göttlichen Willens) auf jenes
Leiden, das durch uns selbst hervorgerufen wird.
Die Reliefs, die Gemälde und die Zitate aus dem Buch Hiob ent-
werfen eine dynamische Erzählung von unserem Schicksal, das
von Anbeginn zwischen Zerstörung und Wiederaufbau ausge-
spannt war. In die Bilder ist die Silhouette des Menschen einge-
schrieben, verstrickt in Weiß und Schwarz, in Töne von Grau, in
die Vieldeutigkeit erwachenden Rots.
Die Perspektive des Lichts
Gero Hellmuths „Hiob“ ist eine metaphorische Erzählung von
Sturz und Wiederaufstehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat
die Menschheit sich mühsam wieder erhoben. Die Europäer ha-
ben begonnen, ein neues Haus zu bauen, auf den Fundamenten
von Übereinkunft, Aussöhnung, Dialog, Kompromiss, Solidarität,
dem Glauben an das Gute im Menschen und an seine schöp-
ferische Kraft. Zwar zeitigt das erkleckliche Resultate, doch er-
starken in unseren Tagen auch wieder die Kräfte der Destruk-
tion. Die schwindende Erinnerung an den Krieg spielt ihnen in
die Hände. Zukunftsängste nehmen zu. Die Korona-Pandemie
macht das noch deutlicher.
Gero Hellmuth sieht Schaffen als ein Wirken „gegen das Verges-
sen“. In seinem Essay „Grenzüberschreitung“ schrieb Hans Ger-
cke, der Ausgangspunkt der Kunst sei „das empathische Mitlei-
den angesichts des Leidens der anderen“ sowie „die Zuversicht,
daß es in all dem (…) eine Perspektive von Licht undHoffnung
geben muß.“
Eine solche Perspektive liegt in den gemeinsamen Unterneh-
mungen polnischer und deutscher Künstler. Sie öffnen Türen